Fabian oder Der Gang vor die Hunde von Erich Kästner - Schauspielhaus - kultur Nr. 181 - November 2023

- Fabian oder Der Gang vor die Hunde
Foto: Emma Szabó

Fabian oder Der Gang vor die Hunde
Foto: Emma Szabó
Tanz am Abgrund
Stephan Labude erschießt sich gleich zu Beginn der Inszenierung. Er wird
es im Lauf des Abends noch zweimal tun, aber auch als Gestorbener sehr
lebendig weiter mitspielen.
Regisseur Martin Laberenz hat Erich
Kästners 1931 erstmals – in einer zensierten Fassung – erschienenen Roman
Fabian oder Der Gang vor die Hunde als einen Totentanz am Rand
des Abgrunds inszeniert. Im Boden des Bühnenbildes von Oliver Helf
klafft ein riesiger Krater, in den alle immer wieder rutschen oder stolpern
und sich an den steilen Wänden zurück nach oben kämpfen. Auf dem gefährlich
schmalen Rand dieses Trichters tobt das wilde Leben der Bars,
Bordelle und KunstszeneLoser.
Zwischen Rausch und Gier, falschem
Glamour und echtem Elend droht ständig der Absturz in den Höllenschlund.
Wie Kästner (1899 – 1974) in seinem Vorwort zur Neuauflage 1950
schrieb, wollte er „vor dem Abgrund warnen, dem sich Deutschland und
damit Europa näherten!“ Ungekürzt und unter dem ursprünglich vorgesehenen
Titel erschien sein Roman erst 2013. In den letzten Jahren haben
etliche deutsche Theater den sympathischen Antihelden Fabian neu
entdeckt, der mit melancholischer Ironie durch das babylonische Berlin
der angeblich Goldenen Zwanziger irrt. Dominik Graf hat ihn 2021
filmisch wiederbelebt und das Ambiente der nächtlichen Ausschweifungen
nostalgischbunt
in Szene gesetzt. Auch in Bonn schillern die Kostüme
(Adriana Braga Peretzki) insbesondere der Damen farbenfroh:
Strass, Straußund
Schwanenfedern, neckische Fransenkleidchen. Fürs
nächtliche Amüsement aller Geschlechter ist gesorgt. Fürs Reglement
sorgt der Typ am Barwagen – Alkohol fließt reichlich. Kästners sprachliche
Pointen und Sarkasmen sorgen für Lacher im Publikum. Totlachen
hat auf der Bühne einen Beigeschmack von Wahrheit.
Die politische Abgründigkeit der Geschichte bleibt allerdings im Hintergrund.
Der promovierte Germanist Jakob Fabian, Werbetexter für eine
Zigarettenmarke, dann arbeitslos, treibt sich herum im Großstadt dschungel
und findet keine Antworten auf seine vielen Fragen.
Christian Czeremnych spielt den DaseinsPassanten
großartig mit
stupender körperlicher Energie. Geradezu halsbrecherisch rennt er um
den steilen Kraterrand, fällt in die Tiefe, sucht irgendwo Halt und flüchtet
sich in die Position des reflektierenden Beobachters. Später legt er
mal seine Kleidung ganz ab, erscheint schutzlos bis zur völligen Nacktheit.
Wobei ein zärtliches Reinigungsritual hier nicht wie ein erotisches
Vorspiel wirkt, sondern eher wie eine Leichenwaschung. Bei aller Frei zügigkeit
bleibt stets das Gefühl, im oberflächlichen Genuss sich selbst zu
verlieren. Fabian wird hier nicht ertrinken beim Versuch, ein Kind aus
dem Fluss zu retten, sondern weiterschwimmen auf der Welle der eigenen
Überflüssigkeit.
Fabelhaft verkörpert Sören Wunderlich den Freund Labude, der Fabian
durchs Nachtleben führt. Enttäuscht von der Untreue seiner Verlobten
und der Wissenschaft: „ein in den Fächern Liebe und Beruf durchgefallener
Menschheitskandidat“. Was sich am Ende als fataler Witz erweist.
Labudes Habilitationsschrift (über Lessing!) wurde als literaturwissenschaftlicher
Meilenstein bewertet und keineswegs abgelehnt, wie der
neidische Kollege Weckherlin behauptete. Jacob Z. Eckstein, seit Anfang
2023 EnsembleMitglied,
spielt neben Labudes Suizidgrund etliche weitere
Figuren in dem Gespensterreigen, glänzt als androgyne SexclubChefin
Frau Sommer und gibt u. a. auch den Herrn ohne Blinddarm, dem
blankes Eisen aus dem Hinterteil wächst. Das bizarre Kapitel wurde einst
von der Zensur gestrichen, was allein die schrille SlapstickNummer
aber
noch nicht rechtfertigt.
Grandios sind die Frauen in diesem grotesken Panoptikum. Sophie Basse
brilliert als nymphomanische Irene Moll, die ihre Liebhaber vor dem Akt
von ihrem Gatten begutachten („Mein Unterleib wuchs ihm über den
Kopf“) lässt und zeitweise ein Männerbordell für wohlhabende Damen
führt, bevor die Wirtschaftspleite alle kalt erwischt. Lena Geyer ist die
aufstrebende JuraDoktorandin
Cornelia Battenberg, in die Fabian sich
Hals über Kopf verliebt. Bis sie für eine Kinokarriere mit einem mächtigen
Filmproduzenten ins Bett geht. Imke Siebert, neu im Bonner Ensemble,
ist als NachtclubStar
Fräulein Kulp sängerisch und spielerisch
ein Topgewinn. Wirklich zu Herzen geht Ursula Grossenbacher als obdachlose
Erfinderin, die im Glitzerfummel mit Perlenschmuck trotzig auf
Würde und Wahrheit besteht.
Nach der Pause wird es düster und hart. An einem CaféhausTisch
zerbricht
die große Liebe. Labude stürzt endgültig aus der Welt. Fabian im
goldglänzenden Anzug mutiert zum hoffnungslosen Opportunisten. Das
Krisenkarussell dreht sich weiter. Man strampelt sich vergeblich ab an
der Kante des drohenden Weltbrandes. Fabian bleibt einfach stehen mit
all seinen ungelösten Fragen. Insofern eine exemplarische Figur unserer
bodenlosen Zeit.
Die Textcollage bleibt im ersten Teil etwas langatmig, gewinnt aber immer
mehr Stringenz und Tempo. Wie ein laut tickender Seismograf, der
krachende Verwerfungen anzeigt. Die sehenswerte Vorstellung eignet
sich auch für aufgeweckte Oberstufenschülerinnen und schüler.
Überzeugter Premierenbeifall.
(E.E.K.)
Montag, 03.06.2024
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