Von Mäusen und Menschen - Schauspielhaus - Kultur Nr. 180 - Oktober 2023

Sehnsucht nach dem kleinen Glück

Unbarmherzig brennt die Sonne im dunstigen Hintergrund. Das Land ist ausgetrocknet und von wirtschaftlichen Krisen heimgesucht. Menschen müssen ihre Heimat verlassen, um irgendwo gegen geringen Lohn Arbeit zu finden. Der 1937 erschienene kurze Roman Von Mäusen und Menschen des US-amerikanischen Literatur-Nobelpreisträgers John ­Steinbeck (1902 – 1968) spielt zur Zeit der großen Depression am Beginn der 1930er Jahre in der kalifornischen Heimat des Autors. Hausregisseur Simon Solberg (Inszenierung und Bühne), der hier vor zwei Jahren Maja Göpels Klima-Bestseller Unsere Welt neu denken auf die Bühne brachte, belässt die von Steinbeck von Anfang an auch als Schauspiel konzipierte Geschichte in ihrer Entstehungszeit. Ihre Aktualität angesichts von Naturkatastrophen und Arbeitsmigration ist ohnehin offensichtlich. Die mit viel Musik verbundene Inszenierung setzt bei aller formalen Nüchternheit auf starke Emotionen.

George und Lennie sind Wanderarbeiter – unterwegs zu einer Farm, wo sie etwas Geld verdienen können. Der junge Paul Michael Stiehler spielt ungemein berührend den dunkelhaarigen, klugen George, der trotz allem fest zu seinem Freund hält. Obwohl dieser ständig Schwierigkeiten macht. Der glatzköpfige Daniel Stock ist Lennie, in dessen Kopf das Gehirn eines Kleinkindes steckt, während sein Körper über Riesenkräfte verfügt. Die Regie verzichtet glücklicherweise darauf, Lennies geistige Behinderung auszustellen und seine physische Stärke plakativ zu demonstrieren. Stock gelingt es wunderbar, mit kleinen unsicheren Gesten und verbalen Hemmungen die ganze Verstörtheit dieses Menschen zu zeigen, der sich so sehr nach etwas Zartem und Weichem sehnt und es mit seinen groben Händen zerstört. Gleich zu Beginn ist es eine kleine Feldmaus, später ein Hundewelpe, am Ende ein Mensch. Der sensible Lennie braucht George zum Überleben in einer rücksichtslosen Welt, George braucht Lennie gegen die Einsamkeit des unsteten Daseins. Und die beiden haben einen gemeinsamen Traum: Ein kleines Stück Land erwerben, wo sie zufrieden bescheiden leben, Gemüse anbauen und Kaninchen züchten könnten. Letztere sind für Lennie das Wichtigste: Er dürfte sie versorgen und streicheln ohne die Angst, wieder etwas ungewollt zu zerstören.
Solbergs Inszenierung hält das Geschehen perfekt im Gleichgewicht zwischen Realismus und metaphorischer Abstraktion. Auf der dunkelgrundierten Einheitsbühne markieren bräunliche Pellets die verbrannte Erde, die mühsam geerntete Gerste und den haltlosen Boden der unsicheren Existenzen. Simple Sperrholzkästen können alles sein: Dreschkisten fürs Korn, Betten und Duschen für die Arbeiter, Melkkühe, Ziegen, alte und junge Hunde sowie das Handwerkszeug für den finalen Gnadenschuss. Gegen Ende formieren sich einige Kisten zu einem Kreuz, und der aus blendenden Punktstrahlern geformte kalte Sonnenkreis erscheint wie die Rosette eines sakralen Raums, in dem Opfer geschehen, aber die Hoffnung nicht erlischt.
Janko Kahle gibt den erfahrenen Vorarbeiter und Gewerkschafter Slim, der sorgsam die Zufallsgemeinschaft der Landarbeiter zusammenhält, aber trotz flammender Reden an ihrer mangelnden Solidarität scheitert. Timo Kählert verkörpert energisch den revoltierenden Carlson, der die Job-Konkurrenz der billigen Zuwanderer ebenso hasst wie den stinkenden kranken Köter des schwerbeschädigten Faktotums Candy. Wolfgang Rüter spielt diesen alten Mann zutiefst anrührend. Candy wäre mit seinem zusammengesparten Geld die Rettung der Glücksfantasien von ­George und Lennie. Daraus wird jedoch nichts. Curley, streitsüchtiger Sohn des Farmbesitzers, provoziert eine Schlägerei, bei dem Lennie ihm alle Knochen der rechten Hand bricht. Max Wagner (bei der Premiere kurzfristig eingesprungen für den von einem Unfall noch nicht genesenen Riccardo Ferreira) spielt perfekt diesen arroganten Schnösel, der nicht nur seine Untergebenen verächtlich mit Körnern bewirft und ihren Lohn brutal nach unten drückt, sondern seine Macho-Schande mit Slims Hilfe lieber verbirgt.
Julia Kathinka Philippi als Curleys frisch angetraute, emotional und sexuell frustrierte Gattin irrt im kurzen Cowgirl-Kleid (ansonsten eher ­jeansgraue Kostüme: Annika Garling) durch diese raue Männerwelt. Eine lebenshungrig ins Lebensunglück Vertriebene, die nur noch bei Lennie Gehör findet. Mit katastrophalen Folgen, weil dieser ihr weiches Haar nicht mehr loslassen mag und ihr dabei den Hals bricht. „My Body is a Cage“ der Band Arcade Fire kommentiert den tödlichen Ausgang perfekt.
Immer wieder bleibt die Handlung einfach stehen. Dann singt das spielerisch und musikalisch fabelhafte Ensemble melancholische Country-Lieder oder alte Pop-Hits wie „We Can be Heroes“ von David Bowie. Die drei Musiker Philip Breidenbach (musikalische Leitung), Joonas Lorenz und Samuel Reissen begleiten das sensible Geschehen vorzüglich. In den Songs scheinen all die Träume und Sehnsüchte auf, die in der harten Realität untergehen.

Denoch bleibt ein Funken Hoffnung: George rettet Lennie vor der lynchwütigen Menge, indem er ihn umbringt, wie zuvor Carlson Candys alten Hund. Aber das ist nicht das Ende. Curleys getötete Frau steht wieder auf. Im gleißenden Licht der Scheinwerfer stehen sie und die beiden Freunde engumschlungen da und imaginieren eine menschlichere Zukunft. Das Wagnis, einfach eine gute Geschichte ohne Sorge vor tiefen Gefühlen zu erzählen, hat sich gelohnt. Das hochkonzertriert den Bühnenaktionen folgende Premierenpublikum applaudierte ergriffen und steigerte sich dann zu jubelndem Beifall für alle Akteure. Ein gelungener Start des Bonner Schauspiels in die neue Saison! E.E.-K.

Spieldauer ca. 100 Minuten, keine Pause

Freitag, 01.12.2023

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