Die Entführung aus dem Serail - Opernhaus - Kultur Nr. 180 - Oktober 2023

Misslungenes Lehrstück

Die Uraufführung von Mozarts deutschem Singspiel 1782 im Wiener Burgtheater war ein großer Erfolg. Die einhellige Ablehnung der neuen Inszenierung der Entführung aus dem Serail im Bonner Opernhaus ist dagegen kaum zu toppen. Selbst langjährige Bonner Opernbesucher können sich an einen solch spektakulären Buh-Sturm nach einer Premiere nicht erinnern. Er galt eindeutig der Regisseurin Katja Czellnik, die aus Mozarts Meisterwerk ein antikolonialistisches und antirassistisches Lehrstück machen und die Dialektik der europäischen Aufklärung kritisch beleuchten wollte. Ebenso einhellig mit begeistertem Applaus belohnt wurde hingegen die musikalische Seite der Aufführung.
Die gesprochenen Rezitative und Dialoge des ­Librettisten Johann ­Gottlieb Stephanie sind gestrichen, der erzählerische Zusammenhang der märchenhaften Geschichte verflüchtigt sich damit zusehends, mitunter leider auch der musikalische. Auch die Sprechrolle des Bassa Selim ist eliminiert, womit die abschließende Vaudeville-Hymne auf dessen Großmut („Nie werd’ ich deine Huld vergessen …“) völlig ins Leere läuft. Der in der Türkei zu hohem Ansehen gelangte und vom Christentum zum Islam konvertierte Spanier passt nicht in das Konstrukt eines Kampfes der Kulturen. Von den grausamen Massakern der christlichen Eroberer an den Einheimischen wird berichtet. Der französische Philosoph Montaigne wird aus dem 16. Jahrhundert herbeizitiert, später auch der Aufklärer Rousseau mit seiner heutzutage etwas verschroben klingenden Pädagogik. Selbstverständlich soll es auch um Geschlechtergerechtigkeit gehen. Wobei die ausgiebig vorkommenden männlichen und weiblichen primären Geschlechtsmerkmale hier eher das Gegenteil bewirken und dem Ganzen einen ­sexistischen Anstrich verpassen.
Ästhetisch hat sich Czellnik orientiert am französischen Straßen- und Jahrmarktstheater mit seinen bunten Maskeraden und Possenspielen, das ein Vorbild für das am Ende des 18. Jahrhunderts neu entwickelte deutsche Singspiel war. Mozarts Auftraggeber Kaiser Joseph II., Vertreter des aufgeklärten Absolutismus, wollte eine neue nationale Form des Musiktheaters etablieren: Oper fürs Volk im Gegensatz zu der vom Adel bevorzugten italienischen Oper. In Czellniks Inszenierung überschlagen sich die Wellen von Bildern und wechselnden Verkleidungen (Ausstattung: Hank Irwin Kittel), bis im Taumel der Assoziationen kaum noch eine Handlung erkennbar ist. Gleich zu Anfang bekritzeln dunkle Gestalten Watteaus im Hintergrund strahlendes Gemälde „Einschiffung nach Kythera“ nach Graffiti-Manier. Der Glaskäfig, in dem sich eine weißgekleidete Rokokogesellschaft zum festlichen Diner niedergelassen hat, während an der Decke Türkenköpfe baumeln, dient auch als Piratenschiff, in dem Konstanze und ihre Bediensteten Blonde und Pedrillo verschleppt und auf einem türkischen Sklavenmarkt verkauft wurden. Die Vorstellung entwickelt sich im Lauf der unübersichtlichen Bühnengeschehnisse immer mehr zum Rampentheater, wo die Solisten ihre Hits abliefern. Schon das Programmheft macht es deutlich: Die Musiknummern erscheinen nur als Anlass für – gewiss ernsthaft zu diskutierende – ­Reflexionen, aber die komplexe psychologische Zeichnung der Charaktere bleibt auf der Strecke.
Die Statisterie unter der Leitung von Gyda Löcher sowie der fabelhafte Chor unter der Leitung von Marco Medved meistern ihre anspruchsvollen Aufgaben dennoch großartig. Der musikalische Leiter Hermes ­Helfricht am Pult des Beethoven Orchesters schafft es trotz allem, die Fäden zusammenzuhalten und eine wunderbar differenzierte, vielfarbige Klangwelt zu präsentieren, die die intellektuelle Überfrachtung auf der Bühne zeitweise in den Hintergrund rückt. Musikalisch ist die Aufführung insgesamt erstklassig. Vor allem die beiden Frauenfiguren überzeugen sängerisch vollkommen. Die junge belgische ­Sopra­nistin Lina Mostin gibt ihrer Konstanze eine anrührende emotionale Tiefe und evoziert mit ihrer ausdrucksstarken Stimme das ganze Wechselbad der Gefühle, das sie zu durchleben hat. Hinreißend ist auch Alina ­Wunderlin als selbstbewusste Zofe Blonde, die mit ihrem feinen lyrischen Sopran ihrer Rolle ein vielseitiges Profil verleiht. Manuel Günther singt den Belmonte bravourös mit all dem tenoralen Schmelz einer zwischen Heldentum und Zweifel schwankenden Seele. Als Pedrillo meistert der junge Tenor Tae Hwan Yun, der schon mehrfach in Bonn zu erleben war, seine erste große Partie hier mit stimmlichem und spielerischem Elan perfekt. Als einziges festes ­En­semble-Mitglied ist der Bass Tobias Schabel als Osmin im Einsatz. Ihm gebührt das größte Lob, denn er ist nicht nur stimmlich, sondern auch schauspielerisch einfach famos. Für die Rolle des osmanischen Wutmenschen streift er sich die konventionelle Bauchattrappe über den schlanken Leib. Später muss er als muslimischer Koch in der Intendantenloge („O wie will ich triumphieren …“) in Vorfreude auf die brutale Hinrichtung der europäischen Eindringlinge einen Schweinskopf fürs Festmahl zubereiten. Ab und zu zitiert er den abwesenden Bassa Selim oder die eingestreuten Fremdtexte.
Zum finalen Janitscharenchor (zur Entstehungszeit von Mozarts Singspiel ein musikalischer Hype) reisen die beiden begnadigten Paare zufrieden zurück ins heimatliche Europa. Viel begriffen haben sie und die anderen nicht. Das Premierenpublikum beim Parforce-Ritt durch allerhand Denkfarcen und mit enormem Aufwand produzierten zirzensischen Albernheiten ebenfalls nicht.
Sehr fair war es jedoch, dass das Inszenierungs-Team den exzellenten Solisten, dem Dirigenten und allen weiteren Akteuren den verdienten Vortritt und rauschenden Applaus überließen, bevor der nicht ganz unerwartete Missfallens-Orkan losbrach. Was hier überhaupt nichts mit der zweifellos gutgemeinten politischen Intention (zugegeben: nicht gerade das Neueste) zu tun hat, sondern mit einer besserwisserischen Arroganz aus der Mottenkiste des deutschen Regie-Theaters. E.E.-K.

Spieldauer ca. 2½ Stunden, inkl. Pause

Freitag, 01.12.2023

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