Die Welle - Junges Theater - Kultur Nr. 178 - Mai 2023

Gefährliches Experiment

Die sensible Amelie muss sich übergeben, nachdem der Lehrer Ben Ross im Geschichtsunterricht einen Film über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust gezeigt hat. Auch ihre Mitschülerinnen und Mitschüler wollen kaum glauben, dass die schrecklichen Bilder von der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz nicht das Produkt einer perversen Horrorkino-Fantasie sind, sondern echte historische Dokumente. Alle Jugendlichen sind sich einig: So etwas Furchtbares kann heute ganz gewiss nicht mehr geschehen. Ross weiß es besser und startet einen Versuch. „Team-Building“ heißt scheinbar harmlos der Kurs, den er in der kommenden Projektwoche anbietet. Das Experiment Die Welle gelingt leider besser bzw. schlimmer, als er selbst erwartete.
Der 1981 erschienene Roman Die Welle des US-Amerikanischen Schriftstellers Morton Rhue wurde ein Bestseller und ist längst ein Klassiker der Jugendliteratur. Die Story beruht auf einem Film über ein Experiment, das 1967 tatsächlich in Kalifornien stattgefunden hatte. Der Stoff wurde mehrfach verfilmt, zuletzt 2019 als Netflix-Serie, und oft auch für die Bühne bearbeitet. Am Jungen Theater Bonn hat Intendant Moritz Seibert (Regie und Bühne) zusammen mit den jugendlichen Darstellerinnen und Darstellern die Geschichte völlig neu bearbeitet. Es sind heutige Schülerinnen und Schüler, aufgewachsen mit Internet und Social Media. Sie sprechen ihre heutige Sprache, tragen moderne Kleidung (Kostüme: Katharina Savides), sind aufgeklärt, tolerant und zukunftsorientiert. Trotzdem erliegen sie der Faszination der „Welle“. Die gelungene Inszenierung holt das Geschehen also sehr nah an die Gegenwart und macht es umso eindringlicher.
Der mit Stühlen und Tischen nüchtern möblierte Bühnenraum lässt sich mit wenigen Handgriffen verwandeln vom Klassenzimmer in die private Wohnung der Familie des Protagonisten David. In oft sehr kurzen, schnellen, fast filmisch gegeneinander geschnittenen, mitunter kurz eingefrorenen Szenen entwickelt sich ein gruppendynamischer Prozess hin zu einem autoritären ­System mit den bekannten Mechanismen von Repression nach innen und Aggression nach außen. Was als demokratische Abstimmung über Namen und Symbole der neuen Bewegung beginnt, wird immer mehr zur militanten Gleichschaltung. Lehrer Ben (hervorragend: ­Christian Steinborn aus dem Erwachsenen-Ensemble), der das Experiment auf den Weg gebracht hat, mutiert bewusst vom sympathischen Pädagogen zum demagogischen Antreiber, der mit „Herr Ross“ angeredet werden will, neuerdings Anzug trägt und verlangt, dass die Schüler bei seinem Erscheinen aufstehen.
Es sind scheinbare Kleinigkeiten, die sich immer mehr zu einer kaum noch aufzuhaltenden Welle auftürmen. Das geht unter die Haut, auch weil alle jugendlichen Darsteller sehr genau die psychischen Befindlichkeiten ihrer Figuren zeigen. Da ist der ehrgeizige David (Axel Klug), der ein Stipendium für die Universität Princeton ergattern möchte und dafür den Meistertitel der Rudermannschaft braucht. Dagegen steht der aus einer reichen Familie stammende Bruno (Julius Busch / Jari Suppert), der alle mit seinem lächerlichen Macho-Gehabe nervt. Der nerdige Außenseiter Robert (Martin Wald), der sonst nie was zu sagen hat, wird plötzlich aktiv und zum glühenden Verehrer des neuen „Führers“. Die hochbegabte Amelie (Hannah Oellers) darf endlich ihre vielen Talente einbringen. Marc (Louis Bongartz), Eric (Benedikt Zalfen), Anna (Alva Kaftan) und Sophie (Katharina Wiemer) machen einfach mit. Uniformiert mit Kampagne-Shirts fühlen sie sich sicher. Wer etwas gelten und kein Underdog sein will, muss sich dieser „Elite“ anschließen, und bald tun es mehr oder minder freiwillig fast alle. Die eigens für diese Produktion komponierte Musik von Ralf Sunderdick klingt zunehmend bedrohlich.
Nur Davids Freundin Laura (Lena Appel) wird skeptisch, als Ross bei den Slogans „Kraft durch Disziplin! Kraft durch Gemeinschaft! Kraft durch Handeln!“ das Wort „Kraft“ durch „Macht“ ersetzt. Laura, Redakteurin des Schulblogs, steigt aus, als ihr schwuler jüngerer Bruder Tim (Henning ­Gille), der seit ein paar Wochen mit Max (Jakob Impekoven) zusammen ist, von der „Welle“-Gruppe angegriffen wird. Es wird schwer, das Experiment abzubrechen, aber alle haben am Ende begriffen, dass faschistische Manipulationen keineswegs unmöglich geworden sind.
In Nebenrollen überzeugen die erwachsenen Darsteller Axel Becker (Schuldirektor) und Nima Conradt (Vater). Aber die Bühne gehört den Jugendlichen, die mit beeindruckender Sensibilität zeigen, dass das überwunden Geglaubte immer noch aktuell ist. Langer, nachdenklicher Premierenbeifall mit Standing Ovations für die großartige Inszenierung. E.E.-K.
Spieldauer ca. 2 ¼ Stunden inkl. Pause
Die nächsten Abend-Termine:
11.05. // 12.05. // 17.05. // 31.05. // 19.06.23

Donnerstag, 01.06.2023

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