blut wie fluss - Schauspielhaus - Kultur Nr. 178 - Mai 2023

Im Spiegellabyrinth der Geschichte

Im Spiegellabyrinth der GeschichteWas wäre, wenn 1972 die DDR nicht zwei Stimmen im Deutschen Bundestag gekauft hätte, um das Misstrauensvotum gegen den amtierenden Bundeskanzler Willy Brandt scheitern zu lassen und seine ­Ost­politik auf den Weg zu bringen? Als Brandt 1992 starb, war Berlin Hauptstadt der neuen Bundesrepublik. Das als neues Bonner Abgeordnetenbüro-Haus geplante Gebäude geriet beim Rheinhochwasser 1993 buchstäblich ins Schwimmen. Der sogenannte „Schürmann-Bau“ wurde 2003 das Domizil der Deutschen Welle.
Wasser ist ein wichtiges Motiv in dem neuen Stück blut wie fluss von Fritz Kater. Unter diesem Namen ist bekanntlich der Regisseur Armin ­Petras als Autor unterwegs. Petras hat die Uraufführung im Schauspielhaus selbst inszeniert. Anfangs regnet es in Strömen auf der Bühne, die Tom Musch mit einem breiten flachen Wasserbecken im Vordergrund ausgestattet hat. Alle dürfen mal waten, rutschen oder plantschen, schwimmen im deutschen ­Schicksalsfluss. Der Rhein ist auch der symbolische Blutkreislauf der Bonner Republik.
Lennart (Wilhelm Eilers, im schwarzen Anzug mimt er auch Bundeskanzler Brandt) ist Wasserbauingenieur im Dienst der Stadtverwaltung und braucht am Ende eine neue Pumpe für seine eigene Blutzirkulation. Seine Tochter Milena (Annika Schilling), die ihn zu Beginn hasst, wird unter Tränen alles einsetzen, damit er das Herz der verunglückten Marta (Sandrine Zenner in diversen Rollen) bekommt, einer aus Moldawien stammenden Studentin. Milena ist inzwischen His­torikerin an der Uni Bonn, Spezialgebiet Willy Brandt. Dessen berühmte Antrittsrede als Bundeskanzler 1969 mit dem Anspruch „Mehr Demokratie wagen“ ist ein Leitmotiv in dem komplexen Geschichtspanorama, das einen Bogen schlägt von der Nachkriegsnot 1946 bis ins Jahr 2015. Was ist geworden aus Willy Brandts Idee eines demokratischen Aufbruchs und dem Traum von einem neuen Frieden? Was ist davon ­geblieben in einer globalisierten Gesellschaft? Wie hat sich Brandts Ostpolitik ausgewirkt nach dem Zerfall der Sowjetunion und angesichts der Migranten- und Flüchtlingsbewegungen?
Als souveräne Erzählerin bzw. Regisseurin führt Lena Geyer im eleganten schwarzen Gewand (Kostüme: Katja Strohschneider) durch die Zeitsprünge des Dramas. Einen nicht ganz einleuchtenden Leitfaden bilden die biblischen „Sieben Todsünden“, zumal der Literaturwissenschaftler Terodde (Daniel Stock), Milenas ehemaliger Lebensgefährte, an einem Buch über diesen biblischen Katalog menschlicher Verfehlungen arbeitet. Nach einem Autounfall arbeitet er als Küchenhelfer im Burg-Café. Ein Herzstück der Geschichte mit historischen und fiktiven Figuren ist Pierre Guillaume, Sohn des DDR-Agenten Günter Guillaume, der zu Brandts persönlichem Referenten aufstieg. In Pierre spiegelt sich auch etwas von Petras‘ eigener Biografie. Dessen Familie übersiedelte 1968 in die DDR, kurz bevor sein Vater als Stasi-Mitarbeiter enttarnt wurde.
Christian Czeremnych spielt überzeugend die Verunsicherung des Jungen, der von der Tätigkeit seiner Eltern bis zu deren Verhaftung nichts ahnte und die Urlaubsreisen mit der Familie Brandt nach Norwegen genoss. Czeremnych verkörpert auch den palästinensischen Biologiestudenten Yussuf, der als Kellner im ­Burg-Café jobbt und dort
auf Frösi (Ursula ­Grossenbacher, glänzend u. a. auch als Brandts Gattin Rut) trifft, die ehemalige Brandt-Sekretärin, die im weit fortgeschrittenen Alter endlich ein Kind haben möchte. Yussuf muss fliehen nach einem Autounfall, bei dem Marta ums Leben kommt, und verabschiedet sich mit einer flammenden Rede über die drohende Klimakatastrophe. Martas Zwillingsschwester wird zur Leihmutter für Frösis Wunschbaby. Alle großen und kleinen Schicksale sind kunstvoll miteinander verknüpft in diesem Labyrinth aus Fakten, Legenden und bizarren Zufällen.
Geyer führt die historischen Akteure oft durch die Tür eines kleinen Holzverschlages auf die Bühne und lässt sie wie Geister aus einer nahen Vergangenheit auftreten. Mitunter erscheint aus dem Bühnenboden der Operationsraum der Universitätsklinik, wo Lennart auf seine Rettung wartet und den antiken Mythos vom Minotaurus beschwört. Das Schauspiel-Ensemble lässt mit schnellen Rollenwechseln alle Gestalten in diesem Strom mit seinen politischen und persönlichen Untiefen so lebendig werden, dass die lange Vorstellung nicht ins Strudeln gerät. Bei der besichtigten zweiten Aufführung wurden alle Darstellerinnen und Darsteller mit langem Beifall belohnt. E.E.-K.

Spieldauer ca. 2 ¼ Stunden, keine Pause
Die Letzten Aufführungen: 4.05. // 12.05. // 30.05. // 6.06.23

Donnerstag, 01.06.2023

Zurück

Merkliste

Veranstaltung

Momentan befinden sich keine Einträge in Ihrer Merkliste.


Letzte Aktualisierung: 29.04.2024 13:01 Uhr     © 2024 Theatergemeinde BONN | Bonner Talweg 10 | 53113 Bonn