Peer Gynt - Schauspielhaus - Kultur Nr. 177 - April 2023

Versuch einer Selbstfindung

Nach mehreren Premierenverschiebungen hat es im Februar endlich geklappt. Simon Solbergs (Regie und Bühne) Inszenierung des frühen dramatischen Gedichts Peer Gynt von Henrik Ibsen ist nun im Schauspielhaus zu erleben. Ohne die nationalromantische Bühnenmusik von ­Edvard Grieg und ohne norwegisches Lokalkolorit. Bewegliche Metallgerüste und viel Bühnennebel markieren die Schauplätze der Lebensreise des notorischen Realitätsverweigerers Peer Gynt. Timo Kählert ­verkörpert überzeugend den trotzigen Antihelden, naiven Tagträumer, verunsicherten Lebenskünstler und verlogenen Gernegroß, der schlicht Kaiser werden möchte. Das rappt er, verstärkt durch energische Beats, seiner kleinen Welt um die Ohren. Die atmosphärisch raffinierte Live-Musik von Sue Schlotte (Gesang und Cello) und Philip Mancarella (Piano und Schlagzeug) begleitet seine Reise zu sich selbst über alle Abgründe.
Solberg sieht Peer Gynt als modernen Typen auf dem Selbstverwirklichungs-Trip. Einen, der sich sein Lebensmärchen aus Zeitgeist-Fragmenten im Kopf zusammenreimt und am Ende begreifen muss, dass sein Ego unter den vielen äußeren Schalen keinen Kern hat und sein Dasein völlig bedeutungslos war.
Anfangs erzählt er seine Geschichte vom tollkühnen Gipfelritt auf einem weißen Hirschbock so selbstgefällig ins Mikro, dass seine Mutter Aase sofort merkt: Kein Wort davon ist wahr. Ihr Sohn ist wie sein Vater, ein Säufer und Taugenichts. Birte Schrein spielt wunderbar eindringlich die bodenständige Aase, die auch nach ihrem Tod als Geist an Peers Seite bleibt. Bernd Braun und Wilhelm Eilers sind die lebenserfahrenen Mahner und gelegentlich die älteren Alter-Ego-Gespenster des traumverlorenen Fantasten zwischen Philosophie und Abenteuerlust. Auf die Schwindelei vom Abenteuer im Gebirge folgt gleich ein ­Brautraub. Ingrid lässt sich zwar willig entführen vom Hochzeitsfest mit einem ungeliebten reichen Bauern, weiß sich aber auch zu wehren, als Peer sie gleich wieder verlässt. Lydia Stäubli tut das in Me-too-Manier auf ­schönstem Schweizer Deutsch. Später ist sie die Außenseiterin Solveig im pelzbesetzten weißen Anzug (Kostüme: Katja Strohschneider), die aus der dörflichen Enge in den Wald flieht, um dort in ihrer Hütte ein Leben lang auf die Heimkehr ihres Seelenverwandten Peer zu warten.
Den treibt es weiter ins Reich der Trolle. Der ungemein bewegliche ­Alois Reinhardt mimt die grüne Trollfrau, die jedoch keineswegs ein Opfer seines Begehrens sein will. Der ersehnte Aufstieg zum Trollkönig endet abrupt. Peer flieht nach Marokko, wird durch Sklavenhandel reich, verliert sein Kapital wieder, landet in der Wüste und schließlich im Kairoer Irrenhaus des Doktors Begriffenfeld, der ihm erklärt, dass die reine Vernunft gestern Nacht verstorben sei. Immerhin darf Peer sich nun mit der Narren-Kaiserkrone schmücken. Die Afrika-Episoden gehen schnell vorbei, Peer muss zurück nach Norwegen. Windmaschinen-Orkan, Schiffbruch kurz vor der ­Küste, Wassergüsse aus Eimern – und schon hat die Erde ihn wieder. Folglich auch der Tod in der ­gro­tesken Gestalt des Knopfgießers.
Etliche Figuren, die Peer auf seinem Lebensweg begegneten, werfen ihm vor, dass er – fixiert nur auf sich selbst – nichts geleis­tet oder verändert habe. Ein unnützer Knopf an der Weste der Welt, der getrost eingeschmolzen werden kann. Doch da ist ja noch die tapfere Solveig, die den Verirrten bei sich aufnimmt. Peers Ende in ihrer Hütte kommt ganz ohne Sentimentalität und romantisches Pathos aus. Der Mann liegt am Boden, die Frau bleibt aufrecht stehen und wacht.
Alle sechs Akteure sind ständig auf der Bühne präsent. Bis auf Kählert als durchgängige Hauptfigur verkörpern sie zahlreiche Rollen. Sie machen das mit solch fulminanter spielerischer Intelligenz und Hochspannung, dass die vielschichtige Aufführung immer neue Denkbewegungen erzeugt. Ein einfaches Vergnügen ist das nicht, aber ein anregendes sicher. Begeisterter Premierenbeifall. E.E.-K.

Spieldauer ca. 1 ¾ Stunden, keine Pause
Die nächsten Aufführungen:
23.03. // 1.04. // 5.04.23

Montag, 01.05.2023

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