Der Haken - Schauspielhaus - Kultur Nr. 176 - Februar/März 2023

Hintergründige Typenkomödie

Angeboten wird ein echtes Schnäppchen: eine Altbauwohnung in bester Südstadtlage, 80 Quadratmeter, sonniger Balkon, nur 850 Euro warm – irgendwas stimmt da nicht. Die merkwürdig zusammengestoppelte Einrichtung, die Matratzen hinter der Tür und der als running Gag ständig verrutschende Oberschrank in der Küche (bewegliches Bühnenbild: Tom Musch) sind ja noch akzeptabel. Aber der angebliche Makler Martin Brockes hat offenbar keine Ahnung vom Immobilienmarkt und wirkt auch sonst ziemlich verwirrt. Um eine solche Wohnung bewerben sich keine Mietinteressenten aus dem sozialen Prekariat. Um städtische Wohnungsnot geht es auch nur nebenbei in dem neuen Stück Der Haken des Autorenpaars Lutz ­Hübner und Sarah Nemitz. Die Werke der beiden brillanten Dramatiker gehören zu den meistgespielten auf deutschen Bühnen. Es sind witzig-böse Gesellschaftskomödien wie beispielweise Frau Müller muss weg!, die 2011 schon erfolgreich am Contra-Kreis-Theater lief, 2015 verfilmt wurde und ab 2019 am Bonner Schauspielhaus in einer neuen Fassung, inszeniert von Schauspieldirektor Jens Groß, für viele ausverkaufte Vorstellungen sorgte.
Regie bei Der Haken hat ­Roland Riebeling geführt, etliche Jahre als Schauspieler am Theater Bonn engagiert und zuletzt hier mit seiner Inszenierung des Liederabends Istanbul überaus erfolgreich (ausgezeichnet mit dem Inszenierungspreis der Bonner Schauspielfreunde). Seine neue Arbeit hat das Zeug, erneut zu einem Bühnenrenner zu werden. Dafür hat er ein fabelhaft spielfreudiges Ensemble, das wunderbar amüsant das ganze Typenarsenal (perfekt kostümiert von Nini von Selzam) der Wohnungsaspiranten präsentiert. Allen voran Birte Schrein mit blonder Beton-Dauerwellenfrisur als energische Elke Özdamar, trotz türkischem Nachnamen alles andere als ein Opfertyp. Die selbstbewusste Inhaberin eines benachbarten Elektroladens kennt sich bestens aus am Wohnungsmarkt. Sanierungsdetails, Energieausweis, Nebenkostenabrechnungen etc. – davon versteht sie deutlich mehr als alle anderen und übernimmt strategisch versiert rasch das Kommando der Truppe. Sie will das Objekt mieten für ihre schwangere Tochter aus Hamburg.
Die Marketing-Expertin Hanna (köstlich hysterisch: Lydia Stäubli) will das Domizil für sich selbst haben nach der gescheiterten Ehe mit Jan. Der soll mit den Kindern brav im Häuschen am ländlichen Stadtrand bleiben. ­Daniel Stock als Ex-Gatte, der eigentlich nur als Fahrer zum Besichtigungstermin engagiert war, entpuppt sich als dominanter, übergriffiger Mega-Macho zwischen Familien-Fürsorge und postehelichem Dauerstreit. Dann ist da noch der schnöselige Wiener Nachwuchs-Manager Peer (als eine Mischung aus Sebastian Kurz und René Benko: Markus J. Bachmann), der das Ganze sportlich nimmt und mit seinem flott eroberten Millionenkapital gern sofort das ganze Haus kaufen möchte – inkl. ansehnlicher Provision für den Makler. Über nicht ganz so üppige Konten verfügt das junge Paar Berenice (liebenswürdig naiv: Julia ­Kathinka Philippi) und Sina (herrlich ruppig: Annika Schilling), das mit einem Kochdienst-Start-Up direkt von der Uni ins lukrative Essens-Liefer-Geschäft einsteigen möchte.
Timo Kählert gibt überzeugend den ebenso verzweifelten wie zweifelhaften Martin, der es nicht leicht hat mit dieser zunehmend mit sich selbst beschäftigten, aufgeregten Bande. Da hilft es wenig, dass er alle gleich duzt und zu Einzelgesprächen bittet. Die Konstellation bietet nicht nur eine Menge Stoff für Zoff und wechselnde Bündnisse, zur Not gibt es als Flucht- und Konspirationsort das auf der Bühne unsichtbare Büdchen unten um die Ecke. Da tobt die Gerüchteküche: Was ist mit den polnischen Frauen, die Martin zeitweise in der Wohnung beherbergte? Hat er dort heimlich ein Bordell betrieben? Die Kandidaten, die die Regie mitunter kurz in ihren Bewegungen ‚einfrieren‘ lässt, versteigen sich zur Musik von Ruben Philipp in immer groteskere Vermutungen, bis Martin sogar seine ehemalige Pornosucht zugibt.
Und schließlich seinen Onkel herbeiholt, den Wohnungseigentümer. Benedikt Goldmann wohnt selbst im Haus und ist der Haken. Ein gebrechlicher alter Mann im Rollstuhl, ehemaliger Diplomat in Brüssel, leider ohne ordentliche finanzielle Reserven. Wolfgang Rüter als leicht dementer Benedikt, der in den Kleidern seiner verstorbenen Frau die Verbindung zu ihr hält, gibt der Geschichte eine neue, wenn auch nicht völlig unerwartete Wendung. Zutiefst berührend und zugleich komisch spielt Rüter den kurzen lichten Moment, wenn Benedikt mit einem alten Schlager seinen Erinnerungen nachhängt. Zu Herzen geht sein kurzer Tanz mit der jungen Berenice. Aber will tatsächlich jemand die Wohnung mit der Verpflichtung übernehmen, ihn zu betreuen? Sein einziger Erbe Martin ist daran krachend gescheitert.
Aus der schrillen Typenkomödie wird am Ende ein Blick auf das wachsende Problem des Pflegenotstands. Riebelings Inszenierung hält geschickt die Balance zwischen Boulevard-Posse, Slapstick und Alltagstragödien. Begeisterter Premieren-Applaus für einen heiter-nachdenklichen, schauspielerisch hervorragenden Abend. Großer Beifall auch für die beiden Autoren. E.E.-K.
Spieldauer ca. 1 ¾ Stunden, keine Pause
Die nächsten Aufführungen:
2.03. // 16.03.23

Samstag, 01.04.2023

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Letzte Aktualisierung: 29.04.2024 11:01 Uhr     © 2024 Theatergemeinde BONN | Bonner Talweg 10 | 53113 Bonn