Enigma Emmy Göring - Theater die Pathologie - Kultur Nr. 174 - Dezember 2022

Die Bösartigkeit des Banalen

Der sprichwörtliche unsichtbare Elefant im Raum heißt Hermann. Aber welsches Rätsel verbirgt diese alte, volkstümlich gekleidete Frau mit der edlen Pelzstola um die Schultern, die im Sessel vor sich hinträumt, während Wagners „Walkürenritt“ ertönt? „Ich bin eine Süße“ erklärt sie. Emmy Göring (1893 – 1973) war tatsächlich Tochter eines Hamburger Schokoladenfabrikanten. Süß musste es sein, zartbitter war nicht nach ihrem Geschmack. Wohl aber das „elegante Braun“ der SA-Hemden: milchschokoladenbraun. Mehrere Jahre lang war die Schauspielerin Emmy Sonnemann als junge Sentimentale am Nationaltheater Weimar engagiert. Paraderolle: Fausts Gretchen an der Seite von Gustav Gründgens als Mephisto. 1935 heiratete sie den zweitwichtigsten Politiker des Dritten Reiches und wurde zur First Lady der Nazis. Ihr Gatte Hermann Göring entzog sich 1946 der „unehrenhaften“ Hinrichtung durch Suizid.
Der Schriftsteller Werner Fritsch, dessen frühe ­Stücke 1992 übrigens am Schauspiel Bonn herauskamen, lässt sie in seinem 2006 als Hörspiel veröffentlichten Text Enigma Emmy Göring (2007 ausgezeichnet mit dem ARD-Hörspielpreis) wieder auferstehen. Er hat viele Dokumente verarbeitet, vor allem Emmys 1967 erschienene Autobiografie „An der Seite meines Mannes“. Im Theater die Pathologie verkörpert Helga Bakowski die einstige Reichsschauspielerin, die in ihren Erinnerungen schwelgt. „Mein Hermann“, abgöttisch verehrt, lebt in ihr weiter und meldet sich mit Botschaften durch ihren Weisheitszahn. Ein bizarrer Einfall des Autors, zu dem Ko-Regisseur Mike Weber (auch Ton und Licht) das schrille Geräusch eines Zahnarztbohrers ertönen lässt. Ebenso skurril wie Emmys Vision einer Elefantenherde, die an einem Kieler Café vorbeizieht. Einer hebt seinen Rüssel und trompetet. Das muss ihr Hermann sein, und plötzlich klingt das nach Walhall. Nach seiner verstorbenen ­ers­ten Gattin nannte der drogensüchtige Kunstliebhaber Göring sein fürstliches Jagdschloss in Brandenburg „Carinhall“. Gründgens war dort häufig zu Gast. „Ihr wart ja immer, wenn ihr Drogen genascht habt, wie so zwei kleine süße Büblein, spieltet mit Hermanns Modelleisenbahn in Carinhall, Stunden.“ Wieder so ein Satz, bei dem einem das Lachen im Hals stecken bleibt. Liebe, Luxus, unfassbare Naivität, keine Spur von Verantwortung – durch ihre rosarote Brille kann und will Emmy auch später die schwarzen Rauchschwaden der Vernichtungslager nicht sehen.
Die „szenische Lesung“ ist trotz aller Fakten kein Dokumentartheater. Bakowski präsentiert den großen Monolog als verrücktes Spiel zwischen Wahn und Sinn. Mitunter zitiert sie den „geliebten Führer“ mit seiner typischen Sprechweise. Schelmisch erzählt sie freche Witze, um dann wieder in Emmys ewig goldbrauner Blase zu landen. Diese Frau ist kein ­Monster, sondern ein verblendetes Theatergeschöpf, das kurz die Weltbühne beherrschte und den Abgang verpasste. Die Gegenwart, das ist „Popomusik von Totentanz-Kapellen“. Mike Weber hockt dabei wie ein Gespenst aus der neuen Zeit am Bühnenrand zwischen alten Filmrollen an einem museumsreifen iMac der ersten PC-Generation und singt trotzig einen Blues-Klassiker von Kris Kristofferson. Die aus der Zeit gefallene Emmy nimmt das nicht wahr, sondern bleibt gefangen in ihrer beängstigenden ‚Schuldlosigkeit‘. „Enigma“ hieß die Nachrichten-Verschlüsselungsmaschine der Wehrmacht. Emmy Görings Code heißt schlicht „Mein Hermann“. Ihre einzige kritische Einsicht: Die Medien haben unsere Zeit im Kampf um die Einschaltquoten zum „Zerstreuungslager“ gemacht. „Wer aber hatte die höchste Einschaltquote aller Zeiten in Deutschland? Adolf Hitler, haha!“ Ein bedenklicher Triumph nach rund 70 Minuten, die die Bösartigkeit des Banalen scharf beleuchten. Beeindruckter Premierenbeifall. E.E.-K.

Spieldauer ca. 70 Minuten, keine Pause
Die nächsten Vorstellungen:
10.12. / 11.12.22 / 14.01. / 15.01.23

Sonntag, 01.01.2023

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