Asrael - Oper - Kultur Nr. 173 - November 2022

Kampf der Engel und Dämonen

Als „Leggenda“ (Legende) hat Alberto Franchetti seine erste Oper bezeichnet. Asrael erzählt eine Geschichte, die vom Himmel in die Hölle und durch die irdische Welt schließlich zur ewigen Seligkeit führt. Asrael ist der von Luzifer verführte Engel, der aus dem Paradies verbannt wird, im Konflikt zwischen zwei Frauen fast verbrennt, aber durch die reine Hingabe einer wirklich Liebenden gerettet wird. Das 1888 in Reggio Emilia uraufgeführte christliche Erlösungsdrama (Libretto: Ferdinando Fontana) wirkt ein wenig wie aus der Zeit gefallen, wurde jedoch ein Riesenerfolg und machte den jungen Komponisten schlagartig bekannt. Italiens bedeutendster Musikverlag Ricordi publizierte das Werk umgehend, ­Giuseppe Verdi persönlich förderte den brillanten Nachwuchskollegen. Bis in die 1920er Jahre blieb Franchetti – auch mit seinen folgenden Werken – ein Star der internationalen Opernszene. Dann ­ver­blasste sein Stern zunehmend, aus welchen Gründen auch immer, bevor er wegen seiner jüdischen Herkunft von den Faschisten endgültig von den Spielplänen verbannt wurde. „Asrael“ wurde nach 1945 nie mehr gespielt, erhalten blieb nur der gedruckte Klavierauszug. Es ist also ein großes Verdienst der Oper Bonn, im Rahmen der Reihe „Fokus ‘33“ aus dem noch vorhandenen Material mit Hilfe des Verlags Ricordi eine Partitur erstellt zu haben, die der Originalversion sehr nahekommt. Um es gleich vorwegzusagen: Es ist die fabelhafte Wiederentdeckung eines musikalisch atemberaubenden Meisterwerks. Eine echte Grand Opéra trotz der merkwürdig zwischen Mythen, Märchen und allegorischer Überhöhung schwankenden Handlung mit Anspielungen auf Dantes „Divina Commedia“ und den „Faust“-Stoff.
Alberto Franchetti (1860 – 1942) wuchs als Sohn einer der reichsten Familien Italiens auf. Sein Vater war der jüdische Großgrundbesitzer Baron Raimondo Franchetti, seine musikliebende Mutter entstammte der Bankiersdynastie der Rothschilds. Franchetti studierte Komposition u. a. in München und Dresden, war ein glühender Wagner-Verehrer und galt nach seinem Opernerstling Asrael als eine der großen Hoffnungen des neuen italienischen Musiktheaters neben den gleichaltrigen ­Kompo­nisten Leoncavallo, Mascagni und Puccini. Im Gegensatz zu ihnen für Geld arbeiten musste der notorische Liebhaber schneller Autos und schöner Frauen nicht. Dass er die ihm angebotene Komposition von ­Tosca ablehnte und Puccini überließ, ist jedoch vermutlich ein Glücksfall der Operngeschichte. Dass Franchettis Vater das Teatro Municipale in Reggio einfach übernahm und so seinem Sohn einen glänzenden Karrierestart ermöglichte, war jedoch gewiss eine lohnende Investition.
Der weltweit erfahrene US-amerikanische Regisseur Christopher Alden präsentiert das Stück als komplexes Psychodrama. Zu Beginn sitzt Asrael vor einem Bühnenvorhang mit der handschriftlichen Original-Widmung „A mio padre“ und erinnert sich an seine paradiesische Jugend. Es war ein künstlicher Himmel, in dem der junge Asrael und seine geliebte Nefta zu unschuldsweißen Kittelgewändern (Kostüme: Sue Willmington) spielerisch durchsichtige Plastik-Engelsflügel trugen und die Mutter wie ein Erzengel die Harfe spielte. Bis Luzifer sich erhebt, seine Flinte ergreift und aus den friedlichen Engelsknaben stramme Soldaten macht, die nach seinem Befehl andere abknallen oder selbst zum Kanonenfutter werden. Der historische Sprung ist plausibel, auch wenn der Erste Weltkrieg am Ende des 19. Jahrhunderts noch in weiter Ferne lag. 2022 steht Europa nach einer langen Friedenszeit wieder vor aggressiver Gewalt in einem imperialen Angriffskrieg.
Im genial schlichten Bühnenbild von Charles ­Edwards (suggestiv ausgeleuchtet von Jorge ­Delgadillo) ist eine leicht verrottete Gründerzeitvilla der Schauplatz für Himmel (Dachboden), Hölle (Keller) und Erde (Hauptgeschoss). Sparsam möbliert mit Schreibtisch, ­Requisiten­truhe, Aussichtsturm und Lotter-, Kranken- oder ­Sterbebett. Zentrales Motiv ist das patriarchale System mit seiner toxischen Männlichkeit. Der Bass Pavel Kudinov (Bonner Ensemble-Mitglied) hat zwar nicht sehr viel zu singen, ist aber ständig präsent als dominanter Vater, satanischer Luzifer, nationalistischer General, machtlos triumphierender König von Brabant und hilflos stummer Bettler. Darstellerisch ist das eine Spitzenleistung.
Die gesanglich extrem anspruchsvollen vier Hauptpartien sind mit exzellenten, international renommierten Gästen besetzt. Der britische Tenor Peter Auty meistert die Rolle des gefallenen Engels, der als ­kriegsver­sehrter Kämpfer und unwiderstehlicher Weiberheld am Ende doch der zarten Seelenliebe unterliegt, gesanglich und spielerisch bravourös. Die aus Georgien stammende Svetlana Kasyan als Nefta bringt mit ihrem feinen Sopran die unerschütterlich empathische Nähe zu allen Leidenden zum Ausdruck. Als Rotkreuz-Schwester Clotilde ist sie das Gute an sich. Ebenfalls aus Georgien stammt die stimmlich brillante Mezzosopranistin Khatuna Mikaberidze, die als selbstbewusste Künstlerin Loretta (im Original ‚Zigeunerin‘) Asraels Herz ebenso stürmisch erobert wie die ­Begeisterung des Publikums. Die US-amerikanische Mezzosopranistin Tamara Gura setzt stimmlich einen anderen Farbakzent. Als ­Himmels­sekretärin hackt sie feministische Parolen in ihre Schreibmaschine, als Prinzessin Lidoria verweigert sie sich (ein bisschen wie Turandot) der Ehe, bis ein Mann ihrem scharfen Blick standhält. Dass Asrael gleich auch noch ihre Soldaten mit einem Blick kurzerhand entwaffnet, erweicht ihre Gefühle und führt Clotilde/Nefta zur Erkenntnis, dass der Fremdling ihr geliebter Engel sein muss.
Regisseur Alden lässt die Bühnenakteure oft in Zeitlupe wie Fremdlinge durch die über- oder unterirdische Welt wandern (Choreografie: Tim Claydon). Dagegen bringt er die Musik ganz nah ans Publikum. Der Opernchor, verstärkt durch den Extrachor, besetzt in den ersten Akten einen Teil des Rangs. Einstudiert von Marco Medved ist er ein famoser Klangkörper, der von Engelsstimmen bis zu dämonischem Höllentumult alles beherrscht. Er mischt sich fulminant ein als kollektiver Erzähler und Kommentator und auch in den zahlreichen irdischen Funktionen. Durch geöffnete Türen im Parkett und aus der Loge agieren vor allem die exzellenten Blechbläser des Beethoven Orchesters, so dass der ganze Raum mitschwingt bei der ungeheuren Klangfülle. Der Dirigent Hermes Helfricht im Orchestergraben hält den riesigen Apparat umsichtig und energisch zusammen. Das ist eine absolute Glanzleistung! Das Orchester entfaltet unter seiner Leitung eine überwältigende musikalische Farbenvielfalt. Franchettis Mischung aus spätromantischer Klangfülle und expressiver Ruppigkeit tönt mitunter so, als hätten die Rivalen Meyerbeer, Verdi und Wagner sich im Rausch zusammengetan mit der neuen Schule des Verismo. Es ist vor allem diese Musik, die die Wiederbelebung von „Asrael“ zu einem spektakulären Ereignis macht.
Nachdem Nefta ihrem geliebten Asrael endlich das erlösende „Ave Maria“ entlockt und seine Seele gerettet hat, folgt dennoch keine Heimkehr ins Paradies. Die letzte Szene ist hier eine Totenfeier für das endlich überwundene Patriarchat. Tosender Premierenbeifall (durchsetzt mit ein paar Buhs für das Regie-Team) nach einem langen, aber in jedem Moment faszinierenden Abend. E.E.-K.

Spieldauer ca. 3 Stunden, eine Pause
Die weiteren Termine: 6.11. // 11.11. // 27.11. // 8.12.22// 14.01.23

Donnerstag, 01.12.2022

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