Medea 38 / Stimmen (Uraufführung) - Schauspielhaus - Kultur Nr. 172 - Oktober 2022

Komplexe Geschichtslektion

Der aus der Türkei ausgebürgerte Schriftsteller Dogan Akhanli (1957 – 1921), der seit 1992 in Köln lebte, wirkte 2020 mit in Volker Löschs Inszenierung von Beethovens „Fidelio“ in der Bonner Oper. Schon bei den Proben entstand die Idee zu einem Theaterstück, das den Mythos der Medea verbindet mit den Völkermorden des 20. Jahrhunderts. Der Text blieb durch den plötzlichen Tod des Autors ein Fragment. Die Dramaturgin Nadja Groß und der hoch renommierte Regisseur Nuran David Calis haben daraus eine Bühnenfassung konstruiert, die in ihrer vielschichtigen Kombination von Fakten, Erzählungen und politischen Narrativen dem Publikum hohe Konzentration abverlangt.
In der aufwendigen Bühneninstallation von Anne Ehrlich steht eine Art Schreibwerkstatt, in der Akhanli (hervorragend: Christoph Gummert in der Funktion des Meddah, also eines orientalischen Geschichtenerzählers und Alter Ego des Autors) und seine deutsche Kollegin Christa Wolf (energisch klug: Lena Geyer) an der Dekonstruktion historischer Narrative arbeiten. Wolf (1929 – 2011) erzählte in ihrem 1996 erschienenen Roman Medea. Stimmen die Geschichte der aus Kolchis am Schwarzen Meer mit den Argonauten nach Griechenland emigrierten Frau aus feministischer Sicht. Die scharfsinnige, selbstbewusste Königstochter flüchtete vor einem stumpfsinnigen patriarchalischen System und fand im scheinbar hochzivilisierten Korinth ähnlich brutale Strukturen. Sie wurde als fremde Magierin geächtet und schließlich zur legendären Kindsmörderin erklärt. Passagen aus Wolfs Text vermischen sich mit den Erfahrungen von drei historischen Frauen verschiedener Generationen, deren Biografien eng verbunden sind mit der multikulturellen ­Berg­region Dersim im Nordosten Anatoliens, die 1937/38 mit extremer militärischer Gewalt ‚türkisiert‘ wurde. In Dersim (heute Tunceli, nicht weit entfernt vom antiken Kolchis), damals überwiegend bewohnt von Kurden und Aleviten, fanden auch viele Armenier Zuflucht vor dem systematischen Völkermord 1915/16 und wurden dann Opfer erneuter ‚ethnischer Säuberungen‘ und grausamer Massenmorde.
Linda Belinda Podszus verkörpert ungemein berührend die junge „kurdische Amazone“ Sakine Canciz, genannt Sara (1958 – 2013), eine Mitbegründerin der kurdischen Arbeiterpartei PKK, die im Pariser Exil erschossen wurde. Julia Kathinka Philippi spielt emotional intensiv Sekine Evren (1922 – 1982), eine Überlebende der Massaker von Dersim und spätere Gattin des türkischen Generals Kenan Evren, der beim Militärputsch 1980 an die Macht kam. Sie weigerte sich, seine Präsidentschaft zu akzeptieren und starb wenig später. Die dritte, großartig zwischen Stolz und Zweifeln gespielt von Ursula Grossenbacher, ist die berühmte Kampfpilotin Sabiha Gökçen (1913 – 2001), eine Adoptivtochter des Staatsgründers Kemal Atatürk und unmittelbar beteiligt an der Bombardierung Dersims. Ein Männerchor (Markus J. Bachmann, Christian ­Czeremnych, Paul Michael Stiehler, Daniel Stock) in schwarzen Uniformen, Stahlhelmen und zumeist mit schwarz verhüllten Gesichtern ­(Kostüme: Anna Sünkel) repräsentiert die Staatsgewalt, auch wenn jeder Schauspieler mal kurz aus der Anonymität heraustritt und individuelle Züge zeigt.
Auf riesigen Videoscreens werden per ­Livekamera Gesichter nah herangeholt oder Kommentare eingespielt, die manche Szenen aus anderer Perspektive spiegeln oder aus wissenschaftlicher Sicht Hintergründe erläutern. Es passiert vieles gleichzeitig in der Inszenierung von Nuran David Calis (Regie und Videos), der vor allem durch seine politisch engagierten Theaterprojekte in Köln bekannt wurde und nun zum ersten Mal in Bonn arbeitete. Als 1976 geborener Deutscher mit armenischen und jüdischen Wurzeln, dessen Eltern aus der Türkei flüchteten, ist es ihm wie dem Autor Akhanli ein Anliegen, die Erinnerung an die Genozide des 20. Jahrhunderts wachzuhalten. Die Parole „#Susamam“ (deutsch: Ich kann nicht schweigen) eines türkischen Rapperkollektivs aus dem Jahr 2019 erscheint immer wieder als Leitmotiv. Den Soundtrack zum Widerstand gegen alle diktatorischen Regimes liefert die Musik von Vivan Bhatti.
Ein konventionelles Drama ist Medea 38 / Stimmen nicht. Auch kein wirklich überzeugendes Theaterstück. Aber ein eindrucksvoller Versuch, die Bühne zu dem von Akhanli postulierten „transnationalen Gedächtnisraum“ zu machen. Das ist anstrengend, bisweilen auch verwirrend. Welcher ‚normale‘ Zuschauer hierzulande weiß schon etwas von den Leichen, auf denen die türkische Republik aufgebaut wurde? Medeas Bruder wurde laut Christa Wolf für die Herrschaft über Kolchis geopfert, ­Kreon ließ seine Tochter für seine Macht über Korinth schlachten. Vertreibung, Folter, Vergewaltigung, Mord und stabile historische Lügennetze von damals bis heute – man geht aus der Vorstellung dieses ­düsteren Monuments der nationalistischen Gewalt sicher ein wenig klüger und deutlich bewegter heraus, als man eintrat. Es war eine sehr mutige Entscheidung, die Schauspiel-Saison mit dieser in jeder Hinsicht schwierigen Produktion zu eröffnen. Großer Premierenbeifall für eine entschieden beachtenswerte Leistung aller Beteiligten! E.E.-K.

Spieldauer ca. 2 ¾ Stunden, inkl. pause
Die nächsten Aufführungen:
6.10. // 20.10. // 5.11. // 18.11. // 3.12.22

Dienstag, 01.11.2022

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Letzte Aktualisierung: 29.04.2024 10:01 Uhr     © 2024 Theatergemeinde BONN | Bonner Talweg 10 | 53113 Bonn