Sandrine Zenner - Kultur Nr.169 - März 2022

Laura, Oi und Catherine - Elisabeth Einecke-Klövekorn trifft Sandrine Zenner

An diesem Januarabend war eigentlich die bereits einmal abgesagte Premiere von Arthur Millers Ein Blick von der Brücke vorgesehen. Nun ­musste sie noch einmal wegen Quarantäne-Fällen im Ensemble verschoben werden und ist jetzt für den 17. Februar geplant. ­Sandrine Zenner, die in dem Drama die junge Catherine verkörpert, versucht, es gelassen zu nehmen: „Die Pandemie ist eine ­Naturka­tastrophe. Für uns alle ist es schwierig, das zu akzeptieren. Ich finde es aber auch großartig, dass in extrem kurzer Zeit Impfstoffe ­ent­wickelt wurden, mit denen man sich und andere schützen kann. Unsere Welt hat sich durch Covid verändert, die sozialen Folgen werden uns noch lange beschäftigen.“
Geboren wurde die Schauspielerin, die seit der Spielzeit 2018/19 fest am Theater Bonn engagiert ist, 1991 in Berlin in einer deutsch-französischen Familie. „Meine Mutter stammt aus Frankreich. Es ist toll, dass sie mit mir immer konsequent Französisch gesprochen hat. In meiner Kindheit lebten wir sogar einige Jahre in Straßburg. Ich bin bilingual aufgewachsen, habe stets zweigeteilt gedacht und gesprochen und bin darüber sehr ­glück­lich. Es ist eine riesige Chance, gleichzeitig in zwei Idiomen und Kulturen leben zu können. Ich bin auch nur auf französische Schulen gegangen.“
In Berlin besuchte sie das traditionsreiche Französische Gymnasium. „Das ist eine öffentliche, international ausgerichtete und sehr kulturaffine Schule. Auch wenn sie sich als Eliteschule versteht und großen Wert auf Fleiß und Disziplin legt, steht sie nicht nur ‚Privilegierten‘ offen. Ich war – trotz meiner guten Noten – überhaupt keine Musterschülerin, hatte einen wilden Freiheitsdrang und trieb mich ständig in der aufregenden Berliner Klubszene herum. Ich hatte immer meine Kamera dabei und liebte es, meine Freunde und mich zu filmen. Auch in unpassenden Momenten. Ich war immer am Lachen. Es gefiel mir einfach, Leute zu unterhalten.“
Nach dem Baccalauréat wirkte sie bei Projekten des frankophonen freien Berliner Theaters „La Ménagerie“ mit. Ein Jurastudium an der Humboldt-Universität brach sie ab, weil ihr die dauerhafte Beschäftigung mit der nüchtern unpersönlichen Rechtswissenschaft wenig zusagte und sie ihren Traum von Lateinamerika verwirklichen wollte. Ein freiwilliges soziales Jahr verbrachte sie in Mexiko, wo sie an der Universität von Morelia Sprachunterreicht gab und in verschiedenen Dörfern bei pädagogischen und ökologischen Projekten mitwirkte. „Danach wollte ich nichts ­Kopflas­tiges mehr machen, sondern brauchte etwas Kreatives. In Berlin nahm ich Unterricht an einer privaten Schauspielschule und bei dem inzwischen verstorbenen Schauspieler Christoph Quest. Mir war schnell klar, dass ich unbedingt eine Ausbildung an einer staatlichen Hochschule machen wollte. Beim achten Vorsprechen hat es geklappt: An der Hochschule der ­Künste in Bern konnte ich 2014 mein Schauspielstudium beginnen und 2018/19 mit einem Diplom abschließen.“
Gastengagements führten Sandrine während des Studiums ans Luzerner Theater, wo sie verschiedene Figuren in Ronja Räubertochter verkörperte, und an die Münchner Kammerspiele. Dort wirkte sie in der Marathon-Performance New Beginnings in der Regie von Alexander Giesche mit.
Bereits in ihrem letzten Studienjahr wurde sie am Schauspiel Bonn fest engagiert. „Dass gleich mein ­ers­tes Vorsprechen erfolgreich sein würde, hätte ich kaum zu hoffen gewagt. Es ist immer viel Zufall im Spiel bei solchen Bewerbungen. Auch wenn irgendwas nicht klappt, nehme ich aus jeder Kritik etwas mit. Es klingt banal, aber ich habe gelernt, dass der Gedanke ‚Sei wie du bist‘ der beste Leitfaden ist. Es gibt kein Double von dir, also zeig was dich ausmacht, deine Ecken und Kanten. Es kann auch unfertig sein, aber wenn du es unbedingt willst, mach dich sichtbar. Entwickle Talent für dein Talent.“
Ihre erste Rolle hier war 2018 die Elektra in der Orestie des Aischylos in der Regie von Marco Štorman. 2019 eroberte sie dann die Herzen vieler Kinder als von den Liebeswirren eines Sommernachtstraums gebeutelte Helena. Die Shakespeare-Komödie als Familienstück hat ihr großen Spaß gemacht. Sie spielte verschiedene Charaktere in dem theaterkritischen Projekt House of Horror (2019) von Volker Lösch und ist aktuell im Schauspielhaus noch zu sehen in dessen Inszenierung Angst. Mit Lösch hat sie 2017 schon zusammengearbeitet bei der Berner Hochschulproduktion Dogville nach dem Filmdrama von Lars von Trier, in der sie die Grace spielte.
Am Bonner Schauspiel glänzte sie in Molières Der eingebildete Kranke (Regie: Simone Blattner) als kokettes Töchterchen Angelique, in König Lear (Regie: Luise Voigt), der direkt nach der Premiere der Pandemie zum Opfer fiel, war sie die kühl kalkulierende Tochter Regan. In der Regie von Mattias Köhler spielte sie eine der Facetten der Prostituierten Maria und war dann in der Spielzeit 2020/21 in der Werkstatt ungemein anrührend die scheue Laura in Tennessee Williams‘ Glasmenagerie. Zu Beginn der laufenden Spielzeit spielte sie in der Uraufführung von Emmanuel Tandlers Liebe et cetera u. a. die feministische Philosophin und Schriftstellerin Hélène Cixous, womit sich ein Bogen schließt zu Sandrines enger Verbindung zum französischen Denken.
In der Werkstatt ist sie derzeit zu sehen als Oi in dem fast 40 Jahre alten Dialog Mercedes von Thomas Brasch, inszeniert von Julie Grothgar. „Die Proben waren eine Art Laborarbeit. Wir haben sehr viel improvisiert, um diese beiden aus der Zeit gefallenen Lebensträumer neu zu erfinden und ihre Situationen spielerisch zu erforschen.“ Erfinden ist ein Stichwort, denn Sandrine Zenner ist auch Autorin. In O’Neills Eines langen Tages Reise in die Nacht las sie als Dienstmädchen Cathleen der Familie Tyrone gehörig die Leviten mit einem von ihr selbst verfass­ten Text. Im März 2019 folgte auf der Foyerbühne im Schauspielhaus die Uraufführung ihrer ­Abschluss­arbeit im Berner Masterstudiengang Expanded Theater. Ihr Stück Die Ratte ist ein vielschichtiger Monolog, in dem sie Figuren aus Gerhart Hauptmanns naturalistischem Klassiker Die Ratten untersucht und hochspannend ihre Beziehungen neu beleuchtet. Im vergangenen Dezember hat sie auf der Werkstattbühne in einer szenischen Lesung mit Cello-­Be­gleitung ihr neues Stück ­Thorsten vorgestellt. „Für mich ist Schreiben eine Verlängerung des Spiels“, sagt sie. „Ich kann da spielerisch Figuren erfinden, eigenständig weiter entwickeln und bin viel mehr Herrin meiner selbst.“ Während des Lockdowns hat sie im Rahmen des Projekts „Bonner Stimmen“ zwei sehr hörenswerte Podcasts gestaltet, die immer noch im Netz abrufbar sind.
Gern würde sie auch öfter vor der Kamera stehen, was bei einem ­Fest­engagement am Theater jedoch häufig an Terminproblemen scheitert. „Eines meiner ersten großen Filmerlebnisse war Les Misérables nach ­Victor Hugo mit Gérard Depardieu als Jean Valjean und vor allem ­Charlotte Gainsbourg als Fantine. Frankreich ist ja eine Kinonation, und ich bin ein Fan der französischen Filmkunst. Künstlerisch sehe ich trotz aller Unterschiede bei den Arbeitsweisen das Spiel auf der Bühne und im Film gleichwertig. Obwohl gerade jetzt nach so langer Zeit der direkte Applaus nach einer Theatervorstellung wirklich guttut.“
Irgendwann würde die selbstbewusst nachdenkliche Schauspielerin, die in den gängigen Castingportalen ihre Erscheinung als südeuropäisch angibt und fließend Deutsch (inkl. dem heimatlichen Berlinerisch), Französisch, Spanisch und Englisch spricht, gerne mal Hauptmanns Jette John spielen. „Ich finde es wichtig, dass das Theater den Literaturkanon vergangener Jahrhunderte lebendig hält. Aber man kann nicht mehr alles kommentarlos auf die Bühne bringen. Traditionell gibt es dort mehr Platz für Männer, während Frauen oft nur als Stichwortgeberinnen fungieren. Außerdem dürfen Männer viel öfter witzig sein. Ich wünsche mir mehr weibliche Komik und dramatisch aktive Frauenrollen. Ein bisschen Größenwahn gehört zum Beruf. Die eigenen Träume zu zensieren, wäre fatal.“ Sandrine Zenner ist freilich viel zu klug, um nicht an Zukunftsideen und Träumen weiterzuarbeiten.

Dienstag, 01.03.2022

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