Burkhard Nemitz - Kultur Nr.166- Oktober 2021

Kurator der internationalen Tanzgastspiele in der Oper - Elisabeth Einecke-Klövekorn trifft Burkhard Nemitz

In diesem Jahr könnte er sein 60-jähriges Bühnenjubiläum feiern. Burkhard Nemitz, geboren 1951 in Osterburg/Altmark, begann nämlich mit zehn Jahren seine Theaterkarriere an der Hannoveraner Oper als Sänger im Straßenkinderchor in der Oper „Carmen“ und stand im Schauspiel in über 150 Aufführungen als Tellknabe auf der Bühne. Die Titelrolle in Schillers Drama spielte damals Günter Strack.
Aber zunächst zur unmittelbaren Gegenwart. Wie so viele Menschen am Theater hat Nemitz in den letzten Monaten noch mehr gearbeitet als sonst, um die beliebte Reihe der Tanzgastspiele auf den Weg zu bringen. Die üblichen Reisen zu Vorstellungen in den Heimatländern der Companien oder bei Festivals waren wegen Pandemie nur sehr eingeschränkt möglich. Aber mit seiner langjährigen Erfahrung kennt Nemitz viele Tanzkünstler weltweit und kann ihre Arbeit auch aus der Ferne einschätzen. Er arbeitet mit verschiedenen Agenturen zusammen, lädt aber etliche Gruppen auch ganz direkt ein. Für die Spielzeit 2021/22 hat er zehn Produktionen eingeplant – etwas weniger als sonst, was auch an der schwierigen Disposition im Opernhaus liegt. Weil die Beethovenhalle bis auf Weiteres nicht zur Verfügung steht, müssen dort zahlreiche Konzerte stattfinden, und die Oper hat nach der langen Zwangspause mehr Premieren vorgesehen als in den Jahren zuvor.
Das größte Problem sind indes die Corona-Regeln in anderen Ländern. Wenige Tage vor unserem Gespräch erhielt Nemitz die Nachricht, dass das Gastspiel der Kibbutz Contemporary Dance Company mit dem hochaktuellen Stück „Asylum“ auf der Kippe steht. Denn die ausländischen Mitglieder des Ensembles wurden völlig überraschend von den Behörden informiert, dass sie zwar ausreisen, aber dann nicht wieder nach Israel einreisen dürfen. Der künstlerische Leiter Rami Be’er hat zwar überlegt, sie durch Mitglieder der Nachwuchs-Company zu ersetzen. Die Idee wurde jedoch schnell verworfen, weil niemand einen Keil in die Truppe treiben will. Alle anderen israelischen Companien sind ebenfalls von der neuen Regelung betroffen. In der Folge laufen alle Drähte heiß. Kann das Kroatische Nationalballett aus Rijeka mit seiner für das Kulturhauptstadtjahr 2020 entwickelten Produktion „Burning Water“ (Choreografie: der in Bonn schon von anderen Arbeiten bekannte Grieche Andonis Foniadakis) so ­kurzfris­­tig noch anreisen? Lassen sich Flüge und Unterkünfte noch umbuchen? Zwei Tage später kommt die Erleichterung: Es klappt, die Termine müssen nicht ausfallen, das Bonner Publikum bekommt einen hervorragenden Ersatz.
Wenn Companien auf internationalen Tourneen unterwegs sind, werden die in den jeweiligen Ländern aktuell geltenden Corona-Regeln virulent. Quarantänewochen für eine große Truppe sind weder praktikabel noch finanzierbar. Bei dem zu Weihnachten geplanten Gastspiel des renommierten Balletts der Tartarischen Staatsoper Kasan mit den großen russischen Klassikern „Schwanensee“ und „Nussknacker“ stellt sich ein anderes Problem: Alle Mitwirkenden sind zwar vollständig geimpft, aber mit dem in der EU nicht zugelassenen Vakzin Sputnik.
Burkhard Nemitz ist freilich Herausforderungen gewohnt und feilt weiter an Problemlösungen.

Als Sohn einer musikliebenden Familie in Hannover aufgewachsen, verließ er mit 17 Jahren sein Elternhaus und verdiente seinen Lebensunterhalt als Bühnentechniker. Er studierte Germanistik und Soziologie, u. a. bei dem bekannten Sozialphilosophen Oskar Negt, wurde Regieassistent an der Landesbühne Hannover und dann Dramaturg an den Westfälischen Kammerspielen Paderborn. Wilfried Minks holte ihn ans Schauspiel Frankfurt für das bald gescheiterte Mitbestimmungsmodell. Zusammen mit Götz Loepelmann baute er zu Beginn der 1980er Jahre das erste ganzjährig aktive Ensemble der Ruhrfestspiele Recklinghausen auf. Unter der Intendanz von Volker Canaris war er als Dramaturg am Schauspielhaus Düsseldorf tätig, wo der spätere Bonner Generalintendant Klaus Weise ab 1986 als leitender Regisseur engagiert war. Zum ersten Mal getroffen hat Nemitz seinen späteren Chef übrigens in Bonn, wo Weise auf der Kneipenbühne im „Anno Tubac“ Joop Admiraals Solostück „Du bist meine Mutter“ mit René Toussaint inszenierte. In Weises Inszenierung von Ibsens „Nora“ im Kleinen Haus des Düsseldorfer Schauspiels ist Nemitz sogar mal als Krogstad eingesprungen und war neben seiner Arbeit als Dramaturg auch früher schon gelegentlich als Schauspieler auf der Bühne aktiv.
Unter der Intendanz von Peter Brenner wurde Nemitz Chefdramaturg am Staatstheater Darmstadt und konnte nun auch wieder zu seiner alten Leidenschaft Oper zurückkehren.
Weise wurde 1989/90 Schauspieldirektor in Darmstadt und zwei Jahre später Intendant in Oberhausen. Viele Schauspielerinnen und Schauspieler aus Weises späterem Bonner Ensemble hat Nemitz bereits in Darmstadt kennengelernt. Die ständigen Ortswechsel wurden jedoch zunehmend eine Belastung. Nemitz schlug etliche Angebote aus diversen Städten aus, verließ 1991 den Theaterbetrieb und zog nach Hamburg, wo seine Frau Maria als Sozialarbeiterin tätig war. Ein Jahrzehnt lang kümmerte er sich vorwiegend um die Pflegesöhne der Familie. Als die Jugendlichen erwachsen waren und Berufe gefunden hatten, kehrte er zurück, um ab November 2001 in Bonn die Intendanz von Klaus Weise vorzubereiten. „Ich hatte im Bad Godesberger Rathaus nur einen kleinen Schreibtisch mit einem Stapel Papier und ein paar Bleistiften“, erinnert er sich. Auf die letzte Spielzeit unter der Generalintendanz von Manfred Beilharz folgte die Interimsintendanz von Arnold Petersen. „Wir waren uns einig, niemanden zu entlassen und den Spielplan so zu gestalten, dass alle verbliebenen Ensemble-Mitglieder sich mit großen Rollen verabschieden konnten.“
Klaus Weise holte für die Tanzsparte den politisch radikalen, ästhetisch eigenwilligen ­Cho­reo­grafie-Star Johann Kresnik nach Bonn. Das war mutig, aber der Zuspruch des Publikums nahm deutlich ab. 2008 fiel die eigenständige Tanzsparte dem Rotstift zum Opfer. Dass es in Bonn kein Tanzpublikum gebe, wollte Nemitz nicht glauben und machte einen folgenreichen Vorschlag: Mit einem Etat von 300.000 Euro eine neue Reihe mit internationalen Tanzgastspielen einzurichten. „Ich hatte damals vom Tanz wenig Ahnung und kannte nur ein paar prominente Namen. Es war anfangs viel Arbeit, für die Reihe eine eigene Programmatik zu entwickeln und ein Netzwerk aufzubauen.“ Inzwischen gilt Nemitz als einer der versiertesten Tanzspezialisten in ganz Deutschland mit weltweiten Kontakten.
Als der künstlerische Betriebsdirektor der Bonner Oper Christian Firmbach 2014 als Generalintendant ans Staatstheater Oldenburg wechselte, engagierte er Burkhard Nemitz als neuen Ballettdirektor mit der Aufgabe ein neues Ensemble aufzubauen und alle zwei Jahre im Frühjahr ein Tanzfestival zu organisieren. „Es war eine tolle Erfahrung, mit 63 Jahren noch mal etwas ganz Neues anzufangen. Ich war jeden Morgen im Ballettsaal, um das Ensemble beim Training zu treffen und die laufenden Produktionen zu besprechen.“ Den französischen Tänzer und Choreografen Antoine Jully hatte er bereits als Mitglied der Mainzer Company von Martin Schläpfer kennengelernt und holte ihn als Chefchoreografen nach Oldenburg. Als Nemitz 2017 in den Ruhestand ging, wurde Jully sein Nachfolger als Ballettdirektor. Im Jahrbuch Tanz 2019 wurde das Oldenburger Ballett als „Kompanie des Jahres“ nominiert.

Selbstverständlich bleibt Nemitz, der inzwischen mit seiner Frau in einem Dorf in der Nähe von Hamburg lebt, weiterhin dem Tanz treu, pflegt Freundschaften und den Ideenaustausch über alle Grenzen hinweg und bemüht sich um die Entwicklung junger Künstler. Das Programm der 2021 ausgefallenen Oldenburger Mai-Tanztage wird 2023 nachgeholt. Auch die Bonner Tanzgastspiele kuratiert er weiter, hat schon konkrete Pläne für die kommenden Spielzeiten und hofft nun, dass die mit „Wahada“ vom Ballet du Grand Théâtre de Genève fabelhaft begonnene Saison ohne neue Hindernisse stattfinden kann.

Freitag, 01.10.2021

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