Shostakowich / Rasa - Tanz-Gastspiel in der Oper - kultur 127 - Juni 2016

Bewegte Tanz-Linien


William Forsythe nannte ihn „einen der wenigen echten Meister des Balletts in unserer Zeit“. Der in Kalifornien aufgewachsene Afroamerikaner Alonzo King gründete 1982 in San Francisco das Lines Ballet, das längst zu den renommiertesten Compagnien der USA gehört. Am Freitag vor Pfingsten war die Truppe zum ersten Mal in der Reihe der „Highlights des internationalen Tanzes“ zu Gast im restlos ausverkauften Bonner Opernhaus.
King setzt mit seinen klassisch ausgebildeten Tänzerinnen und Tänzern auf die Linie als Grundmotiv aller sichtbaren Bewegungen. Eine horizontale Linie wandert – farbig subtil changierend – im Bühnenbild von Robert Rosenwasser langsam nach oben in dem 2014 uraufgeführten gut 30-minütigen Stück Shostakowich. Zu Ausschnitten aus den Streichquartetten des russischen Komponis­ten entwickelt sich eine faszinierende Geometrie der Gefühle. Konzentriert auf Paarkonstellationen, bei denen die Frauen selbstbewusst auf der Spitze alle körperliche Erdenschwere negieren, während die Männer bodenständig oder sprungkräftig den Raum erobern. Zarte Melancholie bestimmt das Duett zum Adagio der Solovioline im ­2. Streich­quartett. Erotische Nähe ist ansons­ten weniger angesagt in der komplexen Lineatur von Körperkonturen, die mit phänomenaler Genauigkeit den musikalischen Linien der Instrumentalstimmen folgen. Dramatisch ausdrucksvoll auf der Schiene zwischen neoklassischem Ballett und der kühlen Eleganz von Artisten, denen in raffiniert knappen Kostümen keine Muskelspannung zu schwierig ist, um die pure Poesie bis zum brüchigen Ensemble-Allegro zu behaupten.
Geradezu legendär ist Alonzo Kings 2007 uraufgeführte Choreografie Rasa (auf Hindi bedeutet der Titel „Saft“ oder „Essenz“) zur Musik des indischen Tabla-Stars Zakir Hussain. Dessen atemberaubende perkussive Fingerfertigkeit paart sich mit der Stimme der Violin-Virtuosin Kala Ramnath. Ihr Sprechgesangskonzert bleibt fremdartig, bringt aber die grenzenlose Tanzkunst zum Leuchten. Auf halber Spitze oder flacher Sohle rast das Ensemble durch eine spirituelle Gedankenwelt, in der reale Beziehungen zwischen Geschlechtern und Kulturen sich auflösen. Sanft und kämpferisch, monadisch vereinzelt oder in rasanten Duo-, Trio-, Quartett-Experimenten auf sich selbst zurückgeworfen. Sie stützen und bekämpfen sich energisch 40 Minuten lang vor dem rostfarbenen Hintergrund, der mal graue Felsenmassive und mal transparente Gewebe suggeriert.
Die tänzerischen Stilmittel sind bei Rasa deutlich heißer und sinnlicher als bei der intellektuell raffinierten Ästhetik des ersten Teils der Vorstellung. Faszinierend bleibt die Musikalität des Ensembles, das jede Notenlinie in dramatischen Szenen eigenwillig untersucht. Begeisterter Applaus für die exzellente Truppe. U. a. auch von der deutschen Familie der in München aufgewachsenen dunkelhäutigen Tänzerin Adji Cissoko, deren Bonner Großvater es sich nicht nehmen ließ, das ganze bunte Kreativ-Ensemble aus San Francisco vor dem Auftritt zu einer privaten Frühlings-Garden-Party einzuladen. Internationalität ist in Bonn nämlich längst normal. E.E.-K.

Donnerstag, 06.10.2016

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