Irrelohe - kultur 71 - Dezember 2010

Feuer und Wahn: Irrelohe in der Oper Bonn

Der Komponist Franz Schreker (1878 – 1934) war ein Autofan. Die Idee zu seiner 1924 in Köln uraufgeführten Oper Irrelohe kam ihm bekanntlich bei einer Eisenbahnfahrt. Das frühe 20.Jahrhundert war das Zeitalter der beschleunigten Mobilität. Die Bühne von Martin Kukulies wird entsprechend dominiert von alten LKWs, offenbar betreibt die Schankwirtin eine Fernfahrer-Raststätte irgendwo im ländlichen Osteuropa, wo die Zeit stehengeblieben ist und im Hintergrund eine Art Dracula-Schloss namens „Irrelohe“ droht.
Feuer ist das zentrale Motiv in der Oper Irrelohe, zu der Schreker auch das Libretto verfasste - Feuer, das zerstört und reinigt. Freuds Psychoanalyse war noch jung, als das Werk entstand. Um sexuelle Triebhaftigkeit, wildes Verlangen, Gewalt und Des­truktion und die Sehnsucht nach moralischer Ordnung geht es in diesem Musiktheater, das Generalintendant Klaus Weise mit feinem Gespür für die psychischen Abgründe der Figuren inszeniert hat.
Ein Fluch lastet auf dem Grafengeschlecht von Irrelohe. Alle männlichen Nachkommen fallen zwanghaft über junge Bräute aus dem Dorf her und werden wahnsinnig. Der verblühten Schönheit Lola passierte es vor dreißig Jahren an ihrem Hochzeitstag. Der inzwischen verstorbene alte Graf von Irrelohe vergewaltigte sie vor den Augen ihres Bräutigams Christobald und der versammelten Festgesellschaft. Christobald ließ sie sitzen mit ihrem bei der grausamen Tat gezeugten Sohn Peter. Jeden Abend singt Lola, mit tiefem Mezzosopran wunderbar verkörpert von Daniela Denschlag, ein melancholisches Walzerlied und schaut verträumt zum Schloss, mit dem ihr Unglück begann. Seit dem Verbrechen brennt es jedes Jahr irgendwo im Dorf.
Der vaterlose Peter hilft seiner Mutter in der Kneipe. Der Bariton Mark Morouse spielt und singt diesen traumatisierten Außenseiter, der von Lola immer auch als Schandfleck betrachtet wird, zutiefst berührend. Peter begehrt die schöne Försterstochter Eva, die ihn seit ihrer Kindheit kennt und leidenschaftslos mag, aber wegen seiner unbekannten Herkunft nicht heiraten will. Ingeborg Greiners großer Sopran blüht auf, wenn Eva dem jungen Grafen Heinrich begegnet. Peter hat inzwischen voller Schrecken nicht nur erfahren, dass das Irrelohe-Feuer in ihm selbst brennt, sondern auch, dass sein gräflicher Halbbruder seiner Geliebten nachstellt.
Christobald ist zurückgekehrt und will die Schmach rächen, die der alte Graf ihm (Lolas Schicksal scheint ihn weniger zu interessieren) einst angetan hat. Der Tenor und brillante Spieler Mark Rosenthal verkörpert hervorragend diesen leicht verlotterten, versoffenen Macho, der sich als Hochzeitsmusikant durchs Leben schlägt und gelegentlich Brand stiftet. Verbündet hat er sich mit den drei Zündlern Fünkchen (Valentin Jar), Strahlbusch (Piotr Micinski) und Ratzekahl (Ramaz Chikviladze), die als Musiker getarnt ihr Unwesen treiben. Schloss Irrelohe und den Grafen Heinrich haben sie diesmal im Visier. Eva kommt ihnen auf dem Parkplatz hinter der Schenke auf die Schliche und will den Grafen warnen. Zu ihm zieht sie seit der ersten Begegnung eine geheimnisvolle Sehnsucht.
Heinrich – die schwere Tenorpartie singt als Gast der international gefragte Roman Sadnik mit lyrischem Schmelz und fabelhafter dramatischer Ausdruckskraft – lebt einsam in seinem Schloss. Verzweifelt will er dem Familienfluch widerstehen, doch die Leidenschaft hat ihn unbarmherzig gepackt. Auch die für schicke Autos, die er mangels anderer Objekte seines erotischen Verlangens geradezu anzubeten scheint. Ein glänzendes silbergraues Oldtimer-Cabrio (für Wissbegierige: ein billig vom Theater ersteigerter Talbot Baujahr 1954, für den großen Auftritt hergerichtet in den Theaterwerkstätten) versteckt sich unter dem schwarzen Tuch, das Eva irgendwann wegzieht. Hinter diesem Wagen legt der rasende Heinrich Eva flach und besinnt sich erst, als sie sich ihm freiwillig als Opfer anbietet. Heinrich muss Eva nicht mehr erobern; sie gehört ihm schon. Die irre Lohe wird zur sanften Lohe in dem großen Liebesduett, in dem deutlich Wagners Tristan und Isolde anklingt. Auf einer Drehscheibe kreist das Traumauto, in dessen Polstern das Paar in seligem Jubel versinkt.
Zur Hochzeitsfeier des Grafen und der Dorfschönheit Eva, die natürlich nicht grundlos diesen urweiblichen Namen trägt, finden sich Chor, Extrachor (wie immer bestens vorbereitet von Sibylle Wagner) und eine solche Menge Statisten ein, dass man angesichts des bunten Volksgewimmels (über 100 Kostüme hat Fred Fenner entworfen) die Gefahr fast aus den Augen verliert. Der zornige Peter will sich die Geliebte nicht nehmen lassen, greift in blinder Wut seinen Bruder und Nebenbuhler an und wird von diesem in Notwehr erwürgt. Die Zündler haben währenddessen ganze Arbeit geleistet. Die Pyrotechniker der Oper auch: Einen solch eindrucksvollen Brand wie den von Schloss Irrelohe kriegt man auf der Bühne selten zu Gesicht. Heinrich und Eva steigen erlöst in ihren blinkenden Straßenkreuzer. Ob ihre Ehe nach dem Brudermord glücklich wird, bleibt dahingestellt.
In Nebenrollen bewähren sich Rafael Bruck / Giorgos Kanaris (Anselmus), Martin Tzonev (Förster), Boris Beletskiy (Pfarrer), Johannes Marx (Müller) und Josef Michael Linnek (Lakai).
Fraglos der wichtigste Akteur ist jedoch das riesig besetzte Beethovenorchester Bonn unter der Leitung von Generalmusikdirektor Stefan Blunier. Die Musik ist großes Kino für die Ohren. Sie kommentiert die brennenden Gefühle eindringlich, steigert sich in wild tobende Klangräusche und feinstes, kaum noch hörbares Pianissimo-Flackern. Sie ist romantisch bis zur Schmerzgrenze und expressiv bis zum Wahnsinn, den sie in dieser Schauergeschichte ständig durchschimmern lässt. Blunier ist der Regisseur am Dirigentenpult, arbeitet subtile psychologische Details heraus und entfacht im Orchestergraben eine vielfarbige Leuchtkraft, die Schrekers Irrelohe zu einem Ereignis macht, das man sich auf keinen Fall entgehen lassen darf.
Gesungen wird sehr textverständlich. Dennoch gibt es eine Übertitelung; die neue, gut lesbare Anlage bestand bei der Premiere sozusagen ihre Feuerprobe. Eine CD-Gesamtaufnahme der grandiosen Bonner Irrelohe-Aufführung ist bereits in Arbeit. E.E.-K.

Aufführungsdauer: ca. 3 Std., zwei Pausen
Im Programmm bis: 19.02.11
Nächste Vorstellungen: 2.12./19.12./8.01./21.01./5.02./19.02.

Dienstag, 21.02.2012

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