Sibelius, Jean (1865 - 1957)

kultur 70 - November 2010

„Etwas merkwürdig Gewinnendes ging von der hageren Gestalt aus. Es war, als wollte sein ehrliches und offenherziges Wesen fortwährend ganz für sich einnehmen. Aber man war doch nicht ganz sicher, ob nicht trotz allem irgend ein heimlicher Schabernack dahinter ste­ck­te. In seiner Redeweise war er voller Paradoxa und Bilder. Das blonde Haar fiel in ungebändigten Strähnen in die Stirn. Der Blick kam wie durch einen matten Schleier, aber wenn die Phantasie in ihm zu arbeiten begann, wurde er tiefer und bekam einen blauen Glanz. Merkwürdig waren auch seine Ohren: große wohlgeschaffene Lautfänger, die Ohren eines Musikers. Wie hätten wir damals ahnen sollen, daß in diesem Jüngling schon eine schöpferische Kraft lebte!“ So schilderte der Kritiker Teodor Flodin in einem Artikel zum 60. Geburtstag von Sibelius seine erste Begegnung mit dem finnischen Komponisten.
Johan Julius Christian Sibelius wurde in Hämeenlinna, im finnischen Südwesten geboren. Er war der Sohn des Arztes Christian Gustaf Sibelius und von Maria Charlotta Borg. Seine Eltern und Verwandten gaben dem Jungen den Kosenamen „Janne“, den Sibelius als „Jean“ sein ganzes Leben lang beibehielt. Sein Vater starb früh, so dass seine Mutter die Erziehung ihrer drei Kinder allein übernehmen musste. Zunächst besuchte Sibelius eine schwedische Volksschule, wechselte aber bald an eine Privatschule, in der er auch Finnisch lernte. Mit zehn Jahren machte Sibelius seine ersten Kompositionsversuche, mit fünfzehn Jahren nahm er Violinunterricht bei dem Leiter der städtischen Militärkapelle Gustaf Levander und arbeitete selbstständig die Musikalische Kompositionslehre von A.B. Marx durch. Unter anderem für das Familientrio, in dem Jean die Violine, die ältere Schwester Linda Klavier und der jüngere Bruder Christian Violoncello spielten, komponierte er kleinere Kammermusikwerke.
Auf Wunsch seiner Familie immatrikulierte sich Sibelius mit zwanzig Jahren an der Kaiserlichen Alexander-Universität in Helsinki als Student der Rechte. Gleichzeitig besuchte er das Musikinstitut und erhielt von Martin Wegelius Unterricht in Harmonielehre, Generalbass, Kontrapunkt und Formenlehre. Violine lernte er weiter bei dem Russen Mitrofan Wasiljeff und dem Ungarn Hermann Csillag. 1888 berief Wegelius Ferruccio Busoni als Lehrer für Klavierspiel an das Institut – mit ihm schloss Sibelius eine lebenslange Freundschaft. Zum Abschluss seines Musikstudiums trat Sibelius im Frühjahr 1889 erfolgreich mit zwei Werken an die Öffentlichkeit: eine Suite in A-Dur für Streichtrio und ein Streichquartett in a-Moll.
Durch ein Stipendium erhielt Sibelius die Möglichkeit, mit 24 Jahren seine erste Studienreise ins Ausland zu unternehmen. Als Ziel wählte er zunächst Berlin, dort nahm er Unterricht bei Albert Becker. Im Jahr darauf reiste er nach Wien, wo er von Robert Fuchs unterrichtet wurde.
Der erste Markstein in seiner kompositorischen Laufbahn war die sinfonische Dichtung Kullervo von 1892. Im selben Jahr übernahm Sibelius am Musikinstitut in Helsinki eine Stelle als Lehrer für Theorie, Komposition und Violine und er heiratete Aino Järnefelt, die Schwester der Künstler Arvid, Armas und Eero Järnefelt. Alle sechs Töchter des Ehepaares waren künstlerisch begabt. 1904 zog Sibelius mit seiner Familie in das Landhaus „Ainola“ im Künstlerdorf Järvenpää in der Nähe von Helsinki.
Durch die Gewährung einer Staatspension konnte sich Sibelius ganz der Komposition widmen. Die Valse triste aus dem Drama Der Tod op. 44 aus dem Jahre 1903 machte ihn weltweit populär. Auf Reisen nach Deutschland und England gab er Konzerte mit seinen Werken. Noch schneller als in England setzte sich Sibelius‘ Musik in Nordamerika durch, wohin er 1914 auch reiste.
Sibelius komponierte u. a. Sinfonische Dichtungen, Orchestersuiten, sieben Sinfonien, ein Violinkonzert, Kammermusik und Chorwerke, die zum größten Teil im Verlag Breitkopf & Härtel herausgegeben wurden. Die Einstudierungen und Uraufführungen seiner sämtlichen Sinfonien hat der Komponist selbst durchgeführt. Für Sibelius war vor allem die Natur Kraftquelle und Inspiration für viele seiner Werke. Mit seiner dritten Sinfonie wichen die kräftigeren Orchesterfarben zarten, eher impressionistischen Tönen. Nach 1908 setzte sich ein konzentrierterer, karger, strenger Stil in seinen Kompositionen durch, beispielsweise in der vierten Sinfonie oder der Tondichtung Der Barde. Der Komponist engagierte sich auch für die nationalfinnische Bewegung, welche die Unabhängigkeit von Schweden und Russland und die Schaffung eines eigenständigen Staates forderte. Das Werk Finlandia op. 26 avancierte in diesem Zusammenhang zur inoffiziellen Nationalhymne.
Im Jahre 1907 trat bei Sibelius ein schmerzhaftes Halsleiden auf, das in Deutschland erfolgreich operiert wurde. Die dadurch ausgelöste seelische Krise äußerte sich in der Komposition des Streichquartetts Voces intimae op. 56 und seiner vierten Sinfonie. In den letzten 27 Jahren seines Lebens hat Sibelius nur noch wenige Werke veröffentlicht.
Anlässlich seines 70. Geburtstages erschien die Biographie „Jean Sibelius“ von Karl Ekman, die sich auf häufigen Zusammenkünften mit dem Komponisten und dessen Briefen und Tagebuchaufzeichnungen gründet. Als einer der ersten Sibelius-Pioniere in Deutschland erwies sich Helmuth Thierfelder. Auch Herbert von Karajan hatte eine Vorliebe für die späteren Sinfonien Sibelius‘, vor allem für die fünfte.
Noch zu seinen Lebzeiten wurden Briefmarken mit Sibelius‘ Bildnis herausgegeben; mehrere Straßen und Parks erhielten nach ihm ihre Namen. 1951 wurden in Helsinki die „Sibelius-Festspiele“ ins Leben gerufen. An seinem 85. Geburtstag erhielt der Komponist die „Sibelius-Medaille“; fünf Jahre später wurde Igor Strawinsky damit ausgezeichnet. E.H.

Lesetipps:
- Ernst Tanzberger, Jean Sibelius, Breitkopf & Härtel.
- Tomi Mäkelä, Poesie in der Luft, Jean Sibelius, Studien zu Leben und Werk, Breitkopf & Härtel.
Hörtipps:
- Symphonien Nos. 4-7, Der Schwan von Tuonela, Tapiola, Berliner Philharmoniker, Herbert von Karajan, DG.
- Streichquartette a-Moll und d-Moll „Voces intimae“, Jean Sibelius Quartet, Ondine.
- Violinkonzert, Serenaden, Humoresque, Anne-Sophie Mutter, Staatskapelle Dresden, André Previn, DG.

Montag, 21.03.2011

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