Berio, Luciano (1925 - 2003)

kultur 86 - Mai 2012

Der italienische Komponist Luciano Berio wurde in Oneglia in der Provinz Imperia geboren. Seinen ersten Musikunterricht erhielt er von seinem Vater, der, ebenso wie bereits sein Großvater, Organist war. Berios erste Komposition war ein Pastorale aus dem Jahre 1936. Am Mailänder Konservatorium studierte er von 1945 - 50 Komposition bei G. F. Ghedini, Kontrapunkt bei G. C. Paribeni und Orches­terleitung bei M. Giulini. Bereits während seines Studiums war er als Klavierbegleiter und Dirigent tätig. Durch ein Stipendium der Koussevitzky Foundation besuchte er 1951 die Kompositionskurse von L. Dallapiccola in Tanglewood / USA. Durch ihn lernte er die Musik Schönbergs und Bergs kennen. In New York erlebte Berio das erste öffentliche Konzert mit elektronischer Musik. Einen entscheidenden Einfluss auf seine Vokalwerke übte die amerikanische Sängerin armenischer Abstammung Cathy Berberian aus, mit der er von 1950 – 64 verheiratet war.
In Italien wurde Berio 1955 Mitbegründer und bis 1959 Leiter des Studio di Fonologia Musicale für elektronische Musik bei der RAI in Mailand. Zusammen mit Bruno Maderna arbeitete er dort an Klangmontagen für Hörspiele und probierte neue kompositorische Techniken mit elektronischen Klängen aus. Es entstanden eigenständige elektronische Kompositionen, wie Mutazioni (1955/56) und Perspectives (1957), die 1957 beim Weltmusikfest der IGNM in Zürich aufgeführt wurden. Ein Jahr zuvor gewann Berio den Preis der Fondation Européenne de la Culture und gründete in Mailand eine Vereinigung für Neue Musik, die Incontri musicali. Unter demselben Titel gab der Komponist auch eine Zeitschrift heraus, die in vier Heften bis 1960 erschien. 1960 begann Berio Kompositionskurse in Amerika zu geben, unter anderem am Berkshire Music Center in Tanglewood. Zu seinen Schülern zählten unter anderen der englische Komponist Bernard Rands und Vinko Globokar. 1965 gründete Berio als Mitglied der Kompositionsfakultät an der Juillard School of Music in New York ein Ensemble für Neue Musik, das Juillard Ensemble. 1974 – 80 leitete er die Abteilung Elektroakustik am Pariser IRCAM (Institut de Recherche et de Coordination Acoustique / Musique). 1987 gründete der Komponist das Institut Tempo reale in Florenz, das sich mit Live-Elektronik beschäftigt. In den Jahren 1993/94 hielt er die Poetik-Vorlesungen an der Harvard Universität. Im Jahr 2000 hatte er die künstlerische Leitung des Festivals „Musik im 21. Jahrhundert“ inne, das vom Saarländischen Rundfunk veranstaltet wurde und Werke von Boulez, Kurtág, Maderna, Reich u. a. zur Aufführung brachte.
Neben Bruno Maderna und Luigi Nono gehörte Berio zu den zentralen Komponisten der italienischen Musik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Komponist war eine der bestimmenden Persönlichkeiten der Neuen Musik; er entwickelte viele weiterwirkende Ideen und Techniken.
Berios Œuvre, das Vokal- und Bühnenwerke sowie Instrumentalmusik enthält, ist von Vielfalt und grenzüberschreitender Abenteuerlust geprägt.
In seine Vokalwerke bezieht der Komponist die ganze Bandbreite der menschlichen Lautäußerung ein – vom Sprechen zum Singen, vom Flüs­tern zum Schreien, vom Weinen zum Lachen. Er verwendet Morpheme und Phoneme, kleine und kleinste Bestandteile der Sprache. Die Arbeit mit den elektronischen Techniken ermöglichte eine weitere Zerlegung und Aufspaltung des phonetischen Materials. Einen Höhepunkt in der Entwicklung einer neuen Vokalität bildet die Komposition A-Ronne (1974/75), die fast 100 Vortragsanweisungen enthält.
Gleichzeitig setzte sich Berio intensiv mit der modernen Dichtung auseinander. Seine Komposition Nones (1954) entstand nach einem Gedicht von W. H. Auden. Auf Texte des Dichters James Joyce griff Berio in seiner Komposition Thema - Omaggio a Joyce (1958) zurück. Sinfonia (1968/69) verwendet Texte von Claude Lévi-Strauss und Samuel Beckett. Coro (1975/76) verschmilzt indianische, peruanische, polynesische und afrikanische Lieder von Liebe und Arbeit mit Gedanken des chilenischen Lyrikers Pablo Neruda. Berio beschäftigte sich jahrzehntelang auch mit Volksmusik unterschiedlichster Herkunft.
In Werken wie Tempi Concertati (1958/59) und Circles (1960) nach E. E. Cummings wendet Berio die sogenannte strukturelle Variabilität an, die dem Interpreten einen größeren Spielraum offenlässt und ihn sogar zur Improvisation auffordert. Eine Offenheit des Werkes ist auch in Laborintus II verwirklicht, das in mehrfacher Weise aufgeführt werden kann: als Hörspiel, szenisch, als Dokumentarfilm, als Pantomime, etc.
Berios Bühnenwerke nehmen einen einzigartigen Platz ein. Die Einheiten des traditionellen Theaters werden aufgehoben. „Der Handlungsort verzweigt sich in viele verschiedene Stätten einer imaginären Landschaft; die historische Zeit löst sich in einer mythischen Zeitlosigkeit auf; anstelle individueller Charaktere werden soziale Verhaltensweisen thematisiert.“ (Gianmario Borio) In seinen Werken für die Bühne steht vor allem die Komplexität der Lebenswelt im Vordergrund.
Die besonderen Klangmöglichkeiten verschiedener Instrumente und der menschlichen Stimme (Sequenza III) lotet Berio in der Serie der Sequenza-Kompositionen aus (1958 – 2002). In diesen Solo-Studien werden spieltechnische und klangliche Aspekte verschränkt. Berio verwendet dort neben der herkömmlichen Notation auch eine graphische Notation (s.u.), die zahlreiche Symbole und Anweisungen enthält, die ausführlich erklärt sind.
Berio war stets um einen lebendigen Kontakt zum Publikum bemüht. Für RAI produzierte er mit Vittoria Ottolenghi eine mehrteilige Fernsehserie „C’è musica e musica“: In zahlreichen Interviews mit Komponistenkollegen wie Boulez und Penderecki wandte er sich hier an breitere Publikumsschichten und trug so zum Verständnis Neuer Musik bei. In zahlreichen Aufsätzen setzte er sich mit den neuen Aspekten und Techniken in seinen Kompositionen auseinander. E.H.

Hörtipps:
- Epifanie, Coro; Cathy Berberian, ORF-Chor, ORF-Symphonieorchester, Leif Segerstam; Orfeo.
- Circles, Sequenza I, Sequenza III, Sequenza V; Nicolet, Globokar, Berberian, Pierre, Drouet; Wergo.
- Laborintus 2; Musique Vivante, Berio; harmonia mundi.

Donnerstag, 12.09.2013

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