Rigoletto - Opernhaus - kultur Nr. 181 - November 2023

Rigoletto
Foto: Hans Joerg Michel
Rigoletto
Foto: Hans Joerg Michel

Maskerade der Beschädigten

So viele Krücken sieht man selten auf der Bühne. Der bucklige
Hofnarr Rigoletto ist nur eine unter vielen körperlich versehrten
Gestalten in der Gesellschaft des Herzogs von Mantua, der mit
Menschen spielt und sie seinen Trieben opfert. Der Regisseur
Jürgen R. Weber stellt Verdis populäre Oper in einen metaphorisch
plakativen Bezugsrahmen. „La Maledizione“ (Der Fluch)
sollte das Werk nach dem Willen des Komponisten ursprünglich
heißen. Das Sujet lieferte ihm und seinem Librettisten Francesco
Maria Piave Victor Hugos SkandalDrama
Le roi s’amuse. Weber
macht aus der Geschichte ein PsychoSchauerstück.
Seine Inszenierung
beginnt mit dem tragischen Ende. Die Spelunke, in der
der Wüstling ermordet werden soll, erscheint gleich zu Beginn
und wird dann hinter die Kulissen geschoben. Klar: Die Rache
geht schief.
Ausstatter Hans Irwin Kittel hat dafür einen Raum mit beweglichen
Wänden geschaffen, die die Schauplätze vom prunkvollen
Palast über die verschlungenen Gassen Mantuas bis zur düsteren Flusslandschaft
illustrieren. Alles ist künstliche MalereiKulisse
für die große
Show des herzoglichen Rockstars mit schwarzem TotenkopfShirt
und
rotem Ledermantel. Gleich mehrere Bühnen mit roten Samtvorhägen
gönnt er sich in seinem LuxusSchloss.
Mal tritt hier ein echtes Streichquartett
auf, dann stehen dort spärlich bekleidete alte weiße Männer
mit allerhand orthopädischen Hilfsmitteln. Verletzte Veteranen aus der
Statisterie des Geschlechterkriegs oder das letzte Aufgebot eines vergreisten
Patriarchats?
Die Herren des Chors und Extrachors (perfekt einstudiert von Marco
Medved) tragen üppig bunte historische Frauenkleider: Eine diverse
Kostümorgie für den BarockPopHerrscher.
Mitunter geistert eine ältere
Dame im grünen Negligé durch die Szenerie wie das Phantom der Ehe
im Gruselkabinett der Lüste. Per Video (Gretchen Fan Weber, im wirklichen
Leben die zierliche chinesische Gattin des Regisseurs) gehen im
Hintergrund hohläugige Babypuppen in Flammen auf oder werden von
ekligen Maden zerfressen. Geschändete Kinder einer toxischen Männergesellschaft?
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der Widerwärtigkeiten
mit hohem Traumatisierungspotenzial? Eher doch eine HorrorPictureShow
mit Effekten aus der schwarzen Kiste der Schauerromantik.
Die Gräfin von Ceprano (Miriam Rippel) sitzt als blutiges Opfer bereits
im Rollstuhl, während Rigoletto sie und ihren Gatten (Soowon Han)
zynisch verhöhnt. Als Gespenst im weißen Klinikkittel bleibt eine junge
Frau im Krankenfahrstuhl ständig anwesend und zeigt im letzten Akt
zitternd auf die Verfluchten. Möglicherweise Monterones vergewaltigte
Tochter, aber auch eine Spiegelfigur der Gilda, die von dem um ihre Unschuld
besorgten Vater Rigoletto vor aller Welt versteckt wird. Hier tatsächlich
in einem goldenen Käfig mit einer steilen Wendeltreppe zum
Fenster mit samtrotem Theatervorhang. Der alte Patriarch hat seinem
geliebten Engel leider die Flügel so gestutzt, dass sein weltfremdes Geschöpf
auf Krücken angewiesen ist. Die junge russische Sopranistin
Anastasiya Taratorkina, Gewinnerin mehrerer internationaler Wettbewerbe
und seit der vergangenen Spielzeit fest am Staatstheater Wiesbaden
engagiert, ist stimmlich und schauspielerisch eine Sensation. Ihre
Arie „Caro nome“ geht tief unter die Haut.
Die verliebte Gilda ist folglich ein leichtes Opfer für den notorischen Verführer.
Der auf großen internationalen Bühnen gefragte rumänische Tenor
Ioan Hotea ist als selbstherrlicher Herzog sängerisch und darstellerisch
kaum zu toppen. Dieser moderne Macho aus der ComicRetorte
braucht keine physischen Hilfsmittel für sein stabiles Ego. Tatkräftig
unterstützt wird er bei Gildas Eroberung von deren Dienerin Giovanna im
schwarzen RockladyOutfit
(ungemein beweglich: das langjährige Bonner
EnsembleMitglied
Ingrid Bartz). Gilda landet also ebenso verstört
(die Sahnetorte im Gesicht und ein paar andere Albernheiten sind so vorhersehbar
wie überflüssig) im LiebesRollstuhlRausch
wie ihre diversen
Vorgängerinnen.
Grandios verkörpert der Bariton Giorgos Kanaris, seit 2009 EnsembleMitglied
der Bonner Oper, die Titelpartie. Sein Rigoletto ist das emotionale
Zentrum der Inszenierung. Ein ernster Auftragsspötter, Hassobjekt
der diensteifrigen Höflinge, verblendet von seiner innig väterlichen Fürsorge,
gefangen im Universum der Lächerlichkeit. Der Fluch des alten
Monterone (in goldener Rüstung in einer mittelalterlichen Burgattrappe
hockend: das Bonner BassUrgestein
Martin Tzonev) trifft ihn tiefer, als
er wahrhaben will. Dabei galt dieser Fluch vor allem dem lasterhaften
Herzog, der wie eine Spätgeburt des göttlichen Marquis de Sade seine
hedonistischen Runden dreht im AmüsierUniversum
der verantwortungsfreien
Macht.
Der Auftragsmörder Sparafucile (hervorragend: der Bass Pavel Kudinov)
und seine Schwester Maddalena (Charlotte Quadt) sind wie siamesische
Zwillinge unzertrennlich verbunden, was im androgynen WokeUniversum
hübsche Akzente setzt. Gilda begreift nun endgültig, dass der Tod
eine bessere Lösung ist als die ewige Nacht in der PsychoHölle
und verhaucht
ihr gerade begonnenes Eigenleben im Leichensack. Zuckende
Blitze am Opernhimmel, TenorSuperhit
„La donna è mobile“ als Triumph
des gewissenlosen Überfliegers, der wie ein mutwilliges Kind
leichtfertig seine Puppen kaputtmacht oder als finale Supernova aus
dem Schnürboden schwebt – das letzte Seelenduett gehört dennoch der
sterbenden Gilda und ihrem Vater Rigoletto, der sich selbst zum blutigen
Narren gemacht hat. Ein trauriger Albtraum jenseits aller HochdampfSchauerromantik
und nebligen Psychokrämpfe.
Der musikalische Leiter Daniel Johannes Mayr am Pult des Beethoven
Orchesters behält die wahnwitzige Horrorstory fabelhaft sicher über alle
irren dramaturgischen Klippen im Griff. Eine Glanzleistung wie die bis in
alle Nebenrollen (beispielsweise Mark Morouse als feister Hofschranze
Marullo) sängerisch famos besetzte Aufführung. Den Herzog singt neben
den Gastsolisten in einigen Vorstellungen das Bonner Ensemblemitglied
George Oniani. Als Gilda sind noch zwei weitere aufstrebende Talente
für die Aufführungen engagiert.
Die insgesamt gelungene, visuell und musikalisch opulente Inszenierung
verliert sich zwar zeitweilig in billiger Effekthascherei, schafft aber dennoch
irritierende Zurückund
Fort blicke. Keine gefällige Vorstellung, nur
eine herzkratzbürstige KlassikerDekonstruktion.
Das jedoch in Bestform.
Überzeugter Premierenbeifall mit ApplausOvationen
für das musikalisch
und spielerisch virtuose Ensemble und den exzellenten Dirigenten,
ein paar Buhs für das Regieteam. E.E.K.
SPIELDAUER CA. 2½ STUNDEN, INKL. PAUSE

Samstag, 02.12.2023

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Letzte Aktualisierung: 15.10.2025 15:01 Uhr     © 2025 Theatergemeinde BONN | Bonner Talweg 10 | 53113 Bonn