Momo - Jungen Theater - Kultur Nr. 180 - Oktober 2023

Vom Wert der Zeit

Momo kann zuhören. Das Mädchen, das plötzlich in der Ruine eines Amphitheaters am Rand einer kleinen Stadt auftaucht, nimmt sich Zeit für die Menschen. Momo weiß nicht, woher sie kommt und wie alt sie ist. Aber sie schenkt allen das Gefühl, wichtig zu sein.
Fast auf den Tag genau 50 Jahre nach dem Erscheinen von Michael Endes Märchen-Roman Momo hat das Junge Theater Bonn eine völlig neue Bühnenbearbeitung der beliebten Erzählung präsentiert. Intendant Moritz Seibert konnte damit auch ein eigenes Jubiläum feiern: Zum 20. Mal fand die erste Premiere der JTB-Spielzeit im Beueler Telekomforum statt.
Die Regisseurin Olja Artes (zeitweise Mitglied des ­fes­ten JTB-Schauspiel-Ensembles) hat die Geschichte vorsichtig aktualisiert und den heutigen Seh-/Hörgewohnheiten des jungen Publikums angepasst. Zwischen den alten Steinquadern des antiken Theaters (Bühne und Projektionen: Jan Patrick Brandt) entfaltet sich die Poesie des zeitlosen Stoffes umso klarer. „Zeit ist eine Art Musik“ hat Meister Hora (beeindruckend: JTB-Urgestein Giselheid Hönsch) anfangs gesagt. Sie ist immer Gegenwart wie das Leben. Momos Freund, der quirlige Fremdenführer Gigi (als liebenswürdiger Aufschneider: Thomas Kahle), darf also auch mal berichten, dass Beethoven genau hier seine Sinfonien aufgeführt bzw. „seine heißen Beats gedropt“ habe. Was die Touristen zwar nicht ganz glauben, aber für Lacher im Publikum sorgt. Freund Beppo, der sympathische Straßenkehrer und Philosoph (berührend: Jan Herrmann), sagt dagegen kein unbedachtes Wort.
Momos beste Freunde sind indes die Kinder, die spontan das geheimnisvolle Mädchen ins Herz schließen. Fast alle zwölf jungen Darstellerinnen und Darsteller (die sechs Kinderrollen sind wie üblich doppelt besetzt) sind neu im Nachwuchsensemble, spielen mehrere Figuren und machen ihre Sache vorzüglich. Die zwölfjährige Marlo Sonntag (alternierend mit der gleichaltrigen Johanna Frädrich) spielt Momo mit dem liebenswürdig unerschütterlichen Ernst, der die Macht der grauen Agenten am Ende bricht. Sie ist keine Superheldin, sondern einfach leise da mit ihrer verschlissenen Männerjacke und dem kunterbunter Flickenrock (Kostüme: Katharina Savides). Weil sie zuhören kann, erfährt sie von Agent BLW (Andrea Brunetti, auch in anderen Rollen überzeugend), was die Grauen planen: den Menschen ihre Zeit rauben und das kostbare Gut in einem Tresor zur weiteren Verwendung horten. Bedrohlich erscheinen diese ständig rauchenden, silbergrauen Roboterwesen mit ihren schillernden Helmen zur aggressiven Musik der Komponistin Mo Sommer. Angeführt von Agentin XYQ/384/c (Melina Jagodzinska, neu im Erwachsenen-Ensemble) und Agent XYQ/384/b (Nima Conradt) ­
füllen sie mechanisch tanzend (Choreografie: Simona Furlani) die ­Zeitsparkasse.
Der Protest der Kinder – „Wir sind hier, wir sind laut, die Grauen klauen euch die Zeit“ erinnert an „Fridays for Future“ – verpufft schnell. Bald sind sie so grau wie die Erwachsenen und zählen die Minuten, die zum streng regulierten Spielen verwendet werden dürfen, und die Stunden für nutzbringende ­Leistungen. Momo soll sich mit dem quietschenden rosa Püppchen „Bibigirl“ (köstlich komisch: Emma Maschke / Anna Cremer, auch als Momos Freundin Eylin im Einsatz) zufriedengeben. Gigi steigt zum gefeierten Popstar auf und lässt sich seine vielen Termine von zwei zickigen Assistentinnen diktieren.
Glücklicherweise erscheint die wunderbare Riesenschildkröte Kassiopeia ­
(­Gurmit Bhogal, zuvor der Friseur Fusi) und bringt Momo zu Meister Hora, der ihr das Wesen der Zeit erklärt und diese dann anhält. Die Grauen, denen die Zeitvorräte ausgehen, wollen Meister Hora vernichten, aber der mutigen Momo gelingt es, mit Hilfe ihrer leuchtenden Stundenblume den Tresor zu öffnen und den Menschen ihre gestohlene Zeit zurückzugeben. Die Grauen lösen sich auf, die Welt wird wieder bunt. Darüber freuen sich auch Momos Freunde Esra (Clarissa Jochem / Mahdi Hokamp), Maria (Valerie Uerdingen / Julia Horstmann), Franko (Michel Lehmhus / August Bergman) und Saschka (Felix Pötzl / Greta Fußhöller).
Die spannende Geschichte erscheint hier ganz frisch mit vielen überraschenden Effekten. Das junge Publikum kann das ebenso genießen wie Erwachsene, die zum Nachdenken angeregt werden über unsere immer stärker reglementierte Zeit, die sprichwörtlich Geld bedeutet. Vor allem ist es jedoch ein Plädoyer für die Wirklichkeit des Theaters, das hier nicht nur Schauplatz einer erfundenen Erzählung ist. Es ist ein Ort zum Verweilen und aufmerksamen Zuhören, um ein bisschen Momo in sich selbst zu spüren und die eigene Zeit mit Leben zu füllen.
Bei der besichtigten zweiten Premiere gab es langen herzlichen Beifall und Standing Ovations für das ganze große Team. Die entschieden sehenswerte Produktion ist nun im JTB-Haupthaus an der Hermannstraße zu erleben. E.E.-K.
Vom JTB empfohlen für Publikum ab 7 Jahren. Die Junge Theatergemeinde empfiehlt den Besuch eher ab 9 Jahren.
Für diesbezüglich Empfindliche gilt eine Warnung vor Stroboskoplicht.


Spieldauer ca. 2 Stunden, inkl. Pause

Freitag, 01.12.2023

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