Mnemon - Werkstattbühne - Kultur Nr. 176 - Februar/März 2023

Fröhliche Wissenschaft

Mnemones nannte man in der Antike die Menschen, die Verträge bezeugten, Ereignisse im Gedächtnis bewahrten und das Archiv der Gesellschaft bildeten. Drei davon machen sich nun in der Schauspiel-Werkstatt an die Arbeit. Die Bühne ist mit allerhand alten Schränken, Kommoden, Lampen und sonstigem Gerümpel vollgestellt wie ein Sperrmüll-Lager. Sieht es in unseren Köpfen ähnlich aus? Wie funktioniert unser Gedächtnis? Können wir unserer Wahrnehmung trauen? Was macht unser Gehirn, und sind wir überhaupt mit uns selbst identisch? Dass wir unseren Erinnerungen nicht glauben sollten und manches oft für wirklich geschehen halten, was tatsächlich so nie stattgefunden hat, ist bekannt. Und was ist mit dem Vergessen? Wenn wir alles ungefiltert speichern würden, was ständig auf uns einströmt, wäre unsere Informationsverarbeitungsmaschine bald überfüllt.
Hirnphysiologie, ­Neuro­plastizität, Kofabulation und kognitive Dissonanzen gelten eher nicht als Stoff für ein Theaterstück. Simon Solberg (Regie und Bühne) und sein Ensemble haben sich dennoch auf eine Forschungsreise durch diverse Gehirnwindungen, Nervenströme und Synapsen-Gewitter begeben. Die Spieler Alois Reinhardt, Paul Michael Stiehler und Sandrine Zenner in futuristisch anmutenden hellen Anzügen (­Kos­tüme: Annika Garling) machen daraus eine höchst vergnügliche Lehrstunde. Es ist keine Wissenschafts-Show und schon gar kein akademisches Kolleg. Sie jonglieren mit Fachbegriffen wie mit Tennisbällen, stellen manche Theorien buchstäblich auf den Kopf, experimentieren mit Wahrnehmungsdifferenzen und versuchen‘s mal mit Yoga oder Zaubertricks. Wobei sie sich mitunter gern auch gegenseitig ein bisschen veralbern. Das Publikum darf gelegentlich mitspielen – zur Belohnung gibt’s Freigetränke. Wobei alle Lebewesen nach möglichst müheloser Bedürfnisbefriedigung streben. Was beispielsweise die Bandwürmer Paul und Alois ziemlich träge werden ließ – witzig vorgeführt von ihrer Dompteuse Sandrine.
Alois entpuppt sich zudem noch als begabter Zauberer, der selbst vor per Hackebeil abgeschlagenen Händen nicht zurückschreckt: „Keine Angst, wir sind versichert.“
Verhaltensökonomie trifft Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom? Kommt auch vor, wenn Paul sehr schön auf seiner Geige Bachs populäre „Air“ intoniert, und Alois dagegen schließlich sogar mit bloßem Hinterteil alle ­Blicke auf sich zu ziehen versucht. Paul erklärt überzeugend, warum unser Denken sich gern auf ausgetretenen Pfaden bewegt, obwohl es einfachere Wege gibt. Aber selbst die 85-jährige Oma Emmi kann noch Chinesisch lernen, wenn sie den entsprechenden Impuls bekommt. Die zumeist nüchtern analysierende Sandrine zeigt dagegen herrlich komisch, wie manche Neuronen ihre Aufgabe der motorischen Steuerung unter dem Einfluss geistiger Getränke vernachlässigen. Dass sie die beiden Jungs zwecks Beweis einer steilen These cool in den nahegelegenen Rhein jagt, ist eine amüsante Volte im spielerischen Feuerwerk (das ab und zu eingesetzte Flackerlicht könnte stroboskop-empfindliche Menschen allerdings irritieren) mit immer wieder überraschenden Tricks und Gags.
Die geistreiche Inszenierung macht Einsichten witzig zu neuen Rätseln. Über allem steht die paradoxe Erkenntnis: „Wenn das Gehirn des Menschen so einfach wäre, dass wir es verstehen könnten, dann wären wir so dumm, dass wir es doch nicht verstehen könnten.“ Das stammt aus Jostein Gaarders 1993 auf Deutsch erschienenem Roman-Bestseller Sofies Welt. Gibt’s eine Lösung für all die Zweifel an der Zuverlässigkeit von Gehirn und Gedächtnis? Möglicherweise eine Besinnung auf die physische Verbundenheit im Mutterleib und die daraus erwachsene menschliche Beziehungs- und Empathiefähigkeit. Wenn wir schon nicht wissen, wer wir wirklich sind und was wir warum wollen (die vieldiskutierte Künstliche Intelligenz als Zukunftsprojekt zwischen Utopie und Dystopie verunsichert uns zunehmend), wäre das bedenkenswert. Begeisterter Premierenbeifall für die entschieden sehenswerte Vorstellung. E.E.-K.
Spieldauer ca. 90 Minuten, ohne Pause
Die nächsten Termine: 23.02. / 2.03. / 10.03. / 16.03. / 25.03.23

Samstag, 01.04.2023

Zurück

Merkliste

Veranstaltung

Momentan befinden sich keine Einträge in Ihrer Merkliste.


Letzte Aktualisierung: 29.04.2024 12:01 Uhr     © 2024 Theatergemeinde BONN | Bonner Talweg 10 | 53113 Bonn