Zerbombt - Werkstattbühne - Kultur Nr. 174 - Dezember 2022

Verstörender Albtraum

In den 1990er Jahren schauten junge, zumeist britische Autoren mit ihrer „In-yer-Face“ Bewegung direkt und unverstellt dahin, wo es richtig weh tut. Der neue Schock-Realismus machte Furore und wurde bald ­Theatergeschichte. 1995 entfachte die britische Dramatikerin Sarah Kane (1971 – 1999) mit ihrem ersten Stück Zerbombt einen Theaterskandal wie dreißig Jahre zuvor Edward Bond mit seinem ­Bühnen­schocker Gerettet. Der längst etablierte Autor Bond (*1934) gehörte damals zu den Verteidigern der jungen Kollegin: „Das Stück zeigte uns eine neue Möglichkeit, Realität wahrzunehmen, und wenn wir das tun, hat sich Realität verändert.“ Sarah Kane, schnell und lebensgefährlich aufgestiegen zu einem merkwürdigen Kometen am internationalen Theaterhimmel (ihr Stück Phaidras Liebe erlebte 1998 am Schauspiel Bonn seine deutsche Erstaufführung) erhängte sich kurz nach ihrem 28. Geburtstag in einer Londoner Psychiatrieklinik. 2003 inszenierte Volker Lösch in seiner ersten Bonner Regiearbeit ihr Debütwerk.
Knapp zwanzig Jahre später hat nun die junge Regisseurin Charlotte Sprenger (*1990 in Hamburg) den brutal-poetischen Höllentrip durch Gewalt und Sehnsucht nach Liebe in der Werkstatt des Bonner Schauspiels neu inszeniert. Sarah Kane schrieb das Stück vor dem Hintergrund der Kriege im ehemaligen Jugoslawien. Die Kriegsgräuel in der Ukraine lassen es plötzlich wieder sehr aktuell erscheinen. Sprenger verortet es nicht konkret. Links ein altmodisches Hotelzimmer mit Doppelbett, rechts ein leerer Raum mit einer Badewanne am Rand und einem Hintergrundbild aus riesigen, gefährlich schimmernden Mohnkapseln (Bühne und Kostüme: Maximilian Schwidlinski). Der Stoff, aus dem man Drogen macht. Vor dem Zimmer ein halbtransparenter Vorhang aus Plastiklamellen, der das brutale Geschehen auf Distanz hält. Man sieht die Akteure dahinter seltsam verschwommen wie in einem Wachtraum.
Sören Wunderlich spielt den Journalisten Ian, todkrank auf der Suche nach etwas, das wie Leben aussieht. Kettenraucher, süchtig nach Gin und schmerzstillenden Mitteln. Außerdem leidet er unter Verfolgungswahn und zieht bei jedem Öffnen der Tür seine Pistole. Julia Kathinka Philippi ist die junge Kate, ein Mädchen aus der Unterschicht, bei Aufregung leicht stotternd. Einst war sie Ians Geliebte. Kate sucht Zuwendung, Ian will Sex. Er vergewaltigt sie. Kate flieht nach der unseligen Nacht in ein unbestimmtes Draußen.
Was wie ein ganz normales Beziehungsdrama beginnt, kippt in eine grausame Kriegsrealität, als ein Soldat in das Zimmer eindringt. Christian ­Czeremnych in Tarnfleck-Uniform mit Maschinengewehr spielt den namenlosen Krieger, der von den Gräueln draußen im Land erzählt. Von der furchtbaren Ermordung seiner Freundin und all den Schrecken, die den Menschen ringsum angetan werden. Der Soldat betreibt das Entsetzliche weiter und reißt den schützenden Vorhang weg. Er vergewaltigt Ian („Ich kann deinen Arsch nicht tragisch finden“) und saugt seinem Opfer die Augen aus (Vorbild: Gloucesters Blendung in Shakespeares König Lear), bevor er sich selbst erschießt. Kate kommt verstört zurück mit einem Baby, das dessen sterbende Mutter ihr gegeben hat. Sie will das Kind (hier eine Babypuppe) beschützen. Es stirbt, der hungrige, blinde Ian macht sich über die Leiche her.
Nach dieser Hölle noch zurückzufinden in ein mögliches Ende der Gewalt, ist mehr als eine dramaturgische Herausforderung. Sprenger löst sie mit bitterer Ironie. Kate hopst plötzlich munter herum und stimmt mit kindlichem Trotz ein Lied an: „Ich schaff das schon, ganz alleine“. Die beiden Männer stimmen ein. Man tanzt über den Abgrund des privaten und welterschütternden Schreckens in ein künstliches Paradies. Wie wir alle, die geblendet angesichts der täglichen Kriegsnachrichten und Katastrophenmeldungen unsere Illusionen pflegen. Die Regie vermeidet zwar allzu kruden Realismus, aber die Vorstellung ist nichts für zartbesaitete Gemüter und wird ausdrücklich nicht empfohlen für Publikum unter 18 Jahren.

Sarah Kanes gegenwärtig wieder hochbrisantes Stück „Zerbombt“ steht derzeit übrigens auch auf dem Spielplan des Euro Theater Central in einer schmerzhaft unter die Haut gehenden Inszenierung von Richard Hucke. Auch hier ohne Weichzeichner, aber näher an Kanes eigener Aussage: „Ich fürchte, ich bin eine hoffnungslose Romantikerin“. E.E.-K.
Spieldauer ca. 1 ¾ Stunden, keine Pause
Die nächsten Vorstellungen: 1.12. / 21.12.22 / 13.01. / 21.01.23

Sonntag, 01.01.2023

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