Der Trafikant - Junges Theater - Kultur Nr.171 - Mai/Juni 2022

Der Trafikant
Foto: Junges Theater Bonn
Der Trafikant
Foto: Junges Theater Bonn

Geschichte vom Erwachsenwerden in unheilvoller Zeit

Am 6. April konnte die wegen Corona verschobene Premiere endlich stattfinden. Als das JTB die Aufführung von Der Trafikant nach dem gleichnamigen Bestseller von Robert Seethaler im Rahmen der Kooperation mit dem neuen Zentrum für internationale kulturelle Bildung des Goethe-Instituts Bonn plante, konnte noch niemand ahnen, welche bedrückende Aktualität die Vorstellung bekommen würde angesichts des brutalen Angriffskrieges Russlands auf einen autonomen Staat in Europa.
Seethalers 2012 erschienener Roman erzählt eine Geschichte vom Erwachsenwerden in der unheilvollen Zeit kurz vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Der Einfluss der Nationalsozialisten in Österreich wächst, ­Hitler verlangt den „Anschluss“ des unabhängigen Staates ans Deutsche Reich. Am 12. März 1938 marschieren deutsche Truppen in das Nachbarland ein. Berichtet werden die Geschehnisse aus der Perspektive des jungen Franz Huchel, der in Nußdorf am Attersee fernab von der großen Politik aufgewachsen ist. Wohlbehütet von seiner alleinerziehenden Mutter, deren wohlhabender Geliebter den beiden ein auskömmliches Leben sicherte. Mit seinem plötzlichen Unfalltod endet das sorgenfreie Dasein im Salzkammergut. Die Mutter schickt den siebzehnjährigen verträumten Franz im Spätsommer 1937 in die Hauptstadt Wien, wo er als Lehrling ihres alten Freundes, des Trafikanten Otto Trsnjek, seinen Lebensunterhalt selbst verdienen soll.
Seethaler hat seinen Roman selbst für die Bühne bearbeitet. Die Inszenierung von Bernard Niemeyer, seit mehr als einem Jahrzehnt fest am Jungen Theater Bonn (JTB) engagiert, entfaltet dicht am Originaltext ein Panorama wachsender gesellschaftlicher Verwerfungen. Wie ein bizarrer Gespensterreigen erscheinen dem naiven Dorfjungen die anonymen Großstadt-Passanten, die mit weißen Stabmasken vor den Gesichtern durch die Straßen tänzeln. Auf der Bühne von Anneliese Jankowicz, einem hölzernen Raum mit vielen beweglichen Teilen, werden die Schauplätze geschickt durch Projektionen markiert. Manche Szenen, in denen es explizit um Sexualität geht, erscheinen als Schattenspiele hinter transparenten Wänden. Das neunköpfige Darsteller-Ensemble verkörpert mit irrwitzig schnellen Rollenwechseln mehr als fünfundzwanzig Figuren. Die Dreißigerjahre-Kostüme von Ausstattungsleiterin Katharina Savides ­illustrieren perfekt das Panoptikum menschlicher Existenzen zwischen bürgerlicher Individualität und uniformiertem Wahnsinn. Der Komponist und Sounddesigner Ralf Sunderdick hat dazu eine unaufdringliche Musik geschrieben, die wie feine Nadelstiche tief unter die Haut geht. Zum Tanzen gebracht wird das alles durch die fabelhafte Choreografie von ­Simona Furlani, die mit böser Wucht das nationalistische Gelichter aufmarschieren lässt und mit sensibler Präzision innere Bewegungen körperlich sichtbar macht.
In einer sehr berührenden Szene nach der Pause zeigt ein zärtlicher Pas de deux von Mutter und Sohn die Veränderungen ihrer Beziehung an. Aus den anfangs kurzen wöchentlichen Postkarten vom heimatlichen See und von den Sehenswürdigkeiten der Metropole ist ein Briefwechsel geworden. Franz hat viele Erfahrungen gemacht und befragt nun das Leben hinter der Maskerade. In der dörflichen Idylle wehen im Frühjahr 1938 die Hakenkreuzfahnen. Gurmit Bhogal, Jahrgang 1994 und erstmals am JTB zu Gast, spielt ungemein intensiv den schmalen Jungen aus der Provinz, der die Liebe und das erotische Verlangen entdeckt und vor allem einen väterlichen Freund gewonnen hat: Professor Sigmund Freud, Liebhaber feiner Zigarren und Stammkunde in Trsnjeks Tabaktrafik. Jan Herrmann spielt mit subtilem Humor den berühmten alten Gelehrten, der weiß, dass die Liebe ein ewiges Rätsel bleibt. Mit vielen Details liebevoll ausgestattet ist der kleine Tabak- und Zeitungsladen des kriegsversehrten Trsnjek, eindrucksvoll gespielt von Andreas Lachnit. Andrea Brunetti überzeugt als unerschütterlich tapfere Mutter, Olja Artes ist das böhmische Prater-Mädel Anezka, in das sich Franz Hals über Kopf verknallt. Als Varieté-Tänzerin zeigt sie sich hier nicht als exotische Schönheit wie im Original, sondern mit animalischer Üppigkeit als Objekt schwüler Männerfantasien, bevor sie sich mit einem Wehrmachtsoffizier aus dem Staub macht.
Giselheid Hönsch glänzt u. a. als elegante Kundin Frau Doktor und als abweisender Portier. Nima Conradt ist u. a. der antisemitische Schlachtermeister Rosshuber und hat einen großen Auftritt als Kabarett-Conférencier mit einer irrwitzigen Hitler-Persiflage. Daniel Coninx ist u. a. Pfarrer, Schießbudenmann und brutaler Gestapo-Typ. Sandra Kernenbach spielt u. a. den kommunistischen roten Egon und den Briefträger, der sich keinen Reim machen kann auf Franzens merkwürdige Gedankenpoesie. Auf Freuds Rat hin schreibt dieser seine nächtlichen Träume auf und hängt sie als verdichtete Botschaften an die Ladenfenster, nachdem sein Chef verhaftet und brutal von den Nazis ermordet wurde. Und eines Morgens hängt Trsnjeks einbeinige graue Hose statt der blutroten Hakenkreuzflagge „wie ein Zeigefinger“ im Wind über dem Gestapo-Hauptquartier …
Es ist eine Geschichte vom leisen Widerstand gegen die entfesselte Gewalt. Es darf trotz aller Düsternis der Geschehnisse auch gelacht werden. Wenige Jahre später entladen Bombenflugzeuge ihre tödliche Fracht über Wien wie nun in der Ukraine. Ganz kurz leuchten deren Farben gelb und blau am Ende der Vorstellung auf. Fulminanter Premierenbeifall vom überwiegend jugendlichen Publikum für eine großartige Inszenierung. Entschieden sehenswert auch für Erwachsene jeden Alters! E.E.-K.

Empfohlen für Publikum ab 14 Jahren.
Zu der Produktion gibt es neben dem Programmheft ein mit Unterstützung des Goethe-Instituts exzellent gestaltetes didaktisches Begleitheft.
Spieldauer ca. 2 ¼ Stunden, eine Pause

Sonntag, 01.05.2022

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