Onkel Wanja - Schauspielhaus - Kultur Nr.171 - Mai/Juni 2022

Onkel Wanja
Foto: Thilo Beu
Onkel Wanja
Foto: Thilo Beu

Suff und verletzte Seelen

Hier träumt man nicht mal vom fernen Moskau wie später die drei Schwestern. Schließlich muss die Heuernte rechtzeitig eingebracht werden. Der Onkel Wanja ist hier eine Tante, was aber keine große Wirkung für die Geschlechtergerechtigkeit bedeutet. Die Frauen machen halt die Arbeit, die Männer ergehen sich in Selbstmitleid. Sophie Basse spielt überzeugend mit leicht maskuliner Ausstrahlung und lesbischem Touch die Titelrolle in Anton Tschechows 1896 uraufgeführten „Szenen aus dem Landleben“, die der Regisseur Sascha Hawemann im Schauspielhaus in einer deutschen Fassung von Thomas Brasch auf die Bühne gebracht hat. Fünfundzwanzig Jahre lang hat Wanja geschuftet, um das Landgut ihrer Nichte Sonja schuldenfrei zu machen. Was hat derweil deren Vater getan, Gatte ihrer früh verstorbenen Schwester? Unschuldiges Papier nutzlos vollgeschrieben. Wanja, inzwischen Mitte Vierzig, wirft empört mit den Blättern um sich, die dem Professor Serebrjakow mit ihrer finanziellen Unterstützung zum akademischen Aufstieg verhalfen. Nun hat sich dieser hypochondrische Literat mangels Ressourcen für das teure Stadtleben auch noch mit seiner jungen zweiten Gattin auf dem Landgut eingenistet, was die sorgsam gepflegte Ordnung der immer gleichen Tage völlig durcheinanderbringt. Man redet über Russlands Schönheit und Größe, träumt sich in Frühlingsgefühle und verweigert sich der Realität außerhalb des kleinen Familienreichs.
Ständig öffnet und schließt sich am Anfang ein deutlich abgenutzter roter Samtvorhang. Dahinter mal ein Mensch, der sich die Lunge aus dem Leib zu husten scheint, mal einer, der zappelt wie bei einem epileptischen Anfall. Mal ein Laufsteg für die schöne Unbekannte, mal ein stummes Szenario mit bekannten Gästen. Lauter Tableaus eines zweifelhaften Daseins. Alles ist bloße Theaterillusion. Der noble Samowar ist in Wirklichkeit eine billige Kaffeemaschine, statt abgründiger Melancholie herrscht oberflächliche Tristesse. Wilde Bewegungswut und minutenlanges Geschrei helfen diesen Zelebranten des Unglücks auch nicht mehr weiter.
Auf der Bühne von Wolf Gutjahr steht im Hintergrund eine gläserne Krankenstation, in der die alte Kinderfrau Marina im weißen Nachthemd residiert, wie eine Schicksalsgöttin rote Fäden wickelt und alte Weisheiten raunt. Vor allem die Männer suchen mitunter kindlich Trost an ihrem Krankenbett. Die famose Ursula Grossenbacher spielt außerdem Wanjas Mutter Maria Woinizkaja, die notorisch emanzipatorische Zeitschriften liest, aber dennoch ihrem Schwiegersohn jede Entscheidung überlässt. Lena Geyer gibt in burschikoser Latzhose (Kostüme: Ines Burisch) die junge Sonja, die sich mit ihrer Tante tapfer um die Belange der Landwirtschaft bemüht. Bis über beide Ohren vergeblich verliebt ist sie in den Arzt Astrow, einen langjährigen Freund des Hauses. Verbittert über die geringen Erfolge seiner medizinischen Tätigkeit, den aussichtlosen Kampf gegen die grassierende Seuche und das tägliche Einerlei ist er selbst zum alkoholsüchtigen Kauz geworden. Und zum engagierten Naturschützer – Tschechow hat da den wohl ersten Ökologen der Theatergeschichte erfunden. Sören Wunderlich gibt den verzweifelten Zyniker und wissenschaftlich informierten Waldverteidiger. Später erscheint er mal in einem merkwürdigen grünen Zottelgewand, was auf die alte Vorlage des Dramas verweist, die 1889 mit geringem Erfolg uraufgeführte Komödie „Der Waldschrat“, auf die Hawemanns Inszenierung gelegentlich zurückgreift. Dann ist da noch der gutmütige ehemalige Gutsbesitzer Telegin (prägnant: Christoph Gummert), der als einsamer Unterhalter um ein wenig Anerkennung buhlt und vom Krieg in Serbien erzählt, wobei Hawemanns eigene Erfahrungen mit einfließen.
Astrow ist ebenso wie Wanja fasziniert von der schönen Jelena, vermählt mit dem alten Schriftsteller, um an seiner Seite so unglücklich zu werden wie alle anderen. Sandrine Zenner stöckelt als elegantes Metropolengeschöpf durch die ländliche Anti-Idylle und gönnt sich einmal einen großen Auftritt im Scheinwerferlicht als französische Tragödienheldin. ­Daniel Stock beeindruckt als ebenso selbstverliebter wie depressiver Künstler Serebrjakow, der in seiner Dichterklause mal Tschechows Klagen über die miserablen Honorare zitiert und schließlich das Landgut verkaufen möchte, um mit dem in Aktien angelegten Erlös seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Wanja fühlt sich um ihr Lebenswerk betrogen und greift zur Pistole. Ihre Schüsse gehen wie erwartet daneben.
Es gibt in knapp drei langen Stunden neben den üblichen Regie-Manierismen und einer Prise bitterem Humor wenig zu Lachen. Aber etliche schöne Jammerarien und nächtliche Klageduette, mit Klavier, Gitarre und Akkordeon sensibel begleitet von dem Musiker Xell.. Über all dem Leiden an sich selbst und der Welt ist es Herbst geworden. Die Gäste reisen ab, auf dem Land bleibt alles wie zuvor. Solider kurzer Premierenbeifall. E.E.-K.

Spieldauer ca. 2 Stunden 45 Minuten, inkl. einer Pause

Sonntag, 01.05.2022

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