Ein Blick von der Brücke - Schauspielhaus - Kultur Nr.170 - April 2022

Ein Blick von der Brücke
Foto: Thilo Beu
Ein Blick von der Brücke
Foto: Thilo Beu

Tanz zwischen Kampfarena und Tribunal

Das komplexe Psychogramm einer italienischen Einwandererfamilie zwischen traditionellen Normen und neuen Ansprüchen ist ein eher unbekanntes Werk des zu den wichtigsten Dramatikern des amerikanischen Realismus zählenden Autors und Dramatikers Arthur Miller. Gegenüber den Klassikern Tod eines Handlungsreisenden und Hexenjagd wird das Stück Ein Blick von der Brücke hierzulande selten gespielt, in den letzten Jahren aber wiederentdeckt. Was gewiss mit der Einwanderungs-­Gesellschaft und dem Zusammenprall unterschiedlicher Lebensregeln zu tun hat.
Im Schauspielhaus hat der Regisseur Martin Nimz – es ist bereits seine achte Inszenierung in Bonn – dem 1955 am New Yorker ­Broadway als Einakter uraufgeführten Stück über die Aktualität hinaus seine tragische Wucht zurückgegeben und den Chor wieder eingesetzt, den der Autor in der heute gängigen, längeren Fassung von 1956 (uraufgeführt in London in der Regie von Peter Brook) gegen die Figur eines Rechtsanwalts auswechselte. Anfangs tänzelt ein Mann mit Boxhandschuhen in einem imaginären Kampf zwischen zwei leeren weißen Tribünen über die Bühne. Sechs Personen in grauen Hosen und weißen Hemden setzen sich nach und nach auf die Ränge und deklamieren: „Der Mensch/schafft Gesetze/Ordnung/und Recht./Das Herz/bewahrt/seine Natur./Das Leben/ein Faden./Schicksal./Am Ende/der Tod.“ Das ist im Grunde schon die ganze Geschichte, die hier verhandelt wird. Der Chor ist wie im antiken Drama die kommentierende Stimme der Gemeinschaft, ein teilnehmender Beobachter und eine Brücke zum Publikum im Zuschauerraum. Die Bühne von ­Sebastian Hannak weitet sich zur Kampfarena und zum Tribunal. Kein Brooklyn-Lokalkolorit, keine Manhattan-Skyline, nur ein weißer Stuhl im leeren weißen Raum. Mitunter werden nach Brechtscher Manier in Großbuchstaben Szenenüberschriften eingeblendet, ansonsten lenkt nichts Illustratives ab von den Konflikten der Akteure.
Im Zentrum steht der Hafenarbeiter Eddie Carbone. Vor 20 Jahren kam er als Arbeitsmigrant aus Sizilien nach New York, hat es in der neuen Heimat mit viel Fleiß zu bescheidenem Wohlstand gebracht und wurde ein rechtschaffener amerikanischer Staatsbürger. Mit heutigen Worten: „voll integriert“. Mit seiner Frau Beatrice und deren verwaister Nichte Catherine, genannt Katie, führt er ein genügsames Leben in der italienischen Community, die sich in der Nähe der Docks unterhalb der ­Brooklyn-Bridge angesiedelt hat. Man achtet aufeinander, nimmt ganz selbstverständlich illegale Zuwanderer auf und verrät sie niemals an die zuständigen Behörden. Das ist Ehrensache. Eddie selbst erzählt von einem minderjährigen Jungen, der zwei Verwandte anzeigte, von seiner Familie verstoßen wurde und nie wieder auftauchte. Eddie verlangt ­Respekt. Von seiner Familie und allen anderen. Leider gibt es da ein Gefühl, das ihn beherrscht, ohne dass er es wirklich weiß: Die Liebe zu seiner Ziehtochter Katie. Mit fatalen Folgen.
Eddie wird gegen die Regel seiner Gemeinschaft verstoßen und seine Ehre verlieren. Weil er Katie nicht verlieren will, die er wie ein Vater aufgezogen hat und für die er mehr als nur väterliche Gefühle hegt. ­Christoph Gummert spielt ihn nicht als alten Macho und stellt auch nicht die Verwurzelung in einem patriarchalischen System in den Vordergrund. Auch das erotische (nicht inzestuöse!) Begehren bleibt latent. Sein Eddie will einfach nicht akzeptieren, dass seine Katie erwachsen geworden ist, andere Männer anschaut und von ihnen wahrgenommen werden will.
Sandrine Zenner verkörpert eindrucksvoll die junge Catherine, die ein eigenes Leben verlangt. Anfangs ist sie die burschikose, unbekümmerte Göre im schlabbrigen Pyjama (zeitlose Alltagskostüme: Kerstin Grießhaber), die naiv mit ihrer Weiblichkeit kokettiert. Den guten Job, den man ihr als hervorragender Schülerin angeboten hat, will sie unbedingt annehmen. Es ist kein bewusster Protest gegen die ‚väterliche‘ Autorität und übermäßige Zuneigung. Sie will bloß raus aus dem engen Familienkäfig. Eine nicht ganz uneigennützige Verbündete hat sie in Eddies Gattin Beatrice (genannt B.). Lydia Stäubli spielt sie elegant zwischen Frustration („Wann gibt’s mal wieder Sex, Eddie“) und hausfraulicher Fürsorge.
Es gibt überhaupt keinen Zweifel daran, dass ihre beiden Cousins, die es über den Atlantik ins „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ geschafft haben, in Eddies Haus großzügig Unterschlupf bekommen. Da ist Marco, Vater von drei Kindern, der für seine Familie Geld verdienen will, um dann nach Sizilien zurückzukehren. Sören Wunderlich zeichnet ein sensibles Bild dieses schüchternen Fremdlings, der am Ende konsequent zum Messer greift. Und da ist sein jüngerer Bruder Rodolpho, der von einer Karriere als Tänzer und Sänger träumt und in Amerika bleiben will. Catherine verliebt sich in den rotblonden Sonnyboy, der so gar nicht dem traditionellen Männlichkeitsideal entspricht. Bei der Premiere verkörperte der Schauspieler und Tänzer Cedric Sprick diese Rolle anstelle von Johannes ­Brüssau, der auch die Choreografie der Inszenierung entworfen hat. Es wird viel und schwungvoll getanzt zwischen Jazz, Charleston, Rap und dem letzten Walzer.
Davor gibt es einen langen Kuss, mit dem Eddie seine Katie endgültig davon überzeugen will, dass Rodolpho kein ‚richtiger Mann‘ ist und sie nur zum Zweck der Einbürgerung benutzt. Bei Katies Hochzeit ganz in Weiß hat er die illegalen Zuwanderer schon verraten und damit die Grenze zur sozialen Ächtung überschritten. Der brave Marco wird verhaftet, sieht rot und sticht zu.
Man klammert sich hilflos sehnsüchtig aneinander in diesem sensiblen Psychodrama, in dem niemand wirklich schuldig ist. Die Inszenierung macht daraus einen Tanz um heikle Gefühle, Recht und Regeln mit der Wucht einer antiken Tragödie. Großer Beifall für das konzentrierte Spiel, insbesondere für die hervorragende Sandrine Zenner. E.E.-K.

Spieldauer ca. 90 Minuten, keine Pause


Freitag, 01.04.2022

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