Alice im Wunderland - Schauspielhaus - Kultur Nr.168 - Januar/Februar 2022

Alice im Wunderland
Foto: Thilo Beu
Alice im Wunderland
Foto: Thilo Beu

Fantastische Traumwelt

„Das Leben ist so langweilig, / Alles bleibt, so wie es ist, / Doch wo bleib ich?“ singt Alice, bevor der Vorhang sich hebt. Für alles gibt es Regeln und Verbote, deren Sinn dem neugierigen Mädchen nicht einleuchtet. Ihr sehnlichster Wunsch: „Ich wär so gerne unbequem“. Unbequem wird es für Alice selbst, wenn sie dem eiligen weißen Kaninchen mit der großen Taschenuhr in dessen verzweigten unterirdischen Bau folgt und nach einem langsamen Fall durch einen schier endlosen Tunnel in einer Fantasiewelt landet, in der alle Gesetze der Logik, der Natur und der Zeit aufgehoben sind. Simon ­Solberg (Inszenierung und Bühne), seit der Spielzeit 2018/19 fest als Hausregisseur am Schauspiel Bonn engagiert, präsentiert Alice im Wunderland als heutige Coming-of-Age-Geschichte ungeheuer effektvoll mit allem, was die Illusionsmaschinerie des Theaters hergibt.
Die schmalen Kreissegmente, die als Auftritts­orte dienen, ziehen sich wie eine surreale Raum-Zeit-Spirale bis zu einem Kreis oben im Hintergrund. Türen hängen geheimnisvoll in der Luft, kreisende Lichtstrahlen und tanzende Leuchtformen (tolles Licht: Sirko Lamprecht) schaffen geometrische Irritationen. Alles Scheinbare ist Wirklichkeit, und umgekehrt ist die Realität ein Traumgebilde. Wenn Alice anfangs im See ihrer eigenen Tränen schwimmt, schweben schillernde Medusen vom Himmel. Doch ein Wabbel mit grünen Pfoten weiß nicht nur Rat bei wilden Fluten, sondern warnt auch gleich vor drohender Erderwärmung und Austrocknung der Böden. Ein bisschen Öko-Bewusstsein muss schon sein im fabelhaften Wunderland, das ja auch eine verkehrte Welt spiegelt. Bevölkert von seltsamen Gestalten wie einem Schlüsselmann, dessen Schlüssel auf keine Tür passen, einem verrückten Hutmacher, der mit einem Hasen ständig seinen Fünf-Uhr-Tee zelebrieren will, einem mit Tellern um sich werfenden Koch, der ein verkappter Ritter ist, einer gigantischen Raupe und natürlich der berühmten Grinsekatze, deren Grinsen auch dann noch da ist, wenn sie selbst längst verschwunden ist.
Ein absoluter Blickfang sind die von Katja Strohschneider entworfenen Kostüme der Wunderlandfiguren. Solberg selbst hat außerdem zusammen mit dem Komponisten William Wahl allen Akteuren mitreißende Songs auf den Leib geschrieben, die man sich über einen QR-Code im Programmheft sogar zum Nachlesen und -hören herunterladen kann. Auf der Bühne sorgen die Musiker Lukas Berg, Philip Mancarella und Michael Schwiemann live, wenn auch zumeist unsichtbar, für eine üppige Sound-Kulisse.
Der in Oxford lehrende Mathematiker Charles Dodgson (1832 – 1898), der sich als Dichter ­Lewis Carroll nannte, wurde durch die Veröffentlichung von Alice im Wunderland 1865 schlagartig berühmt. Als Nonsens-Poet ging er in die Literaturgeschichte ein. Sein Buch beeinflusste etliche Künstler des Surrealismus; insbesondere Max Ernst schuf um die Mitte des 20. Jahrhunderts wunderbare Illustrationen zu Alices Abenteuern. Geschrieben hatte Carroll die Erzählung für eine reale Alice, die kleine Tochter des Dekans am streng anglikanischen Christ Church College. Angeblich verlor der zeitlebens stotternde Autor seine Schüchternheit nur, wenn er sich mit Kindern unterhielt. In seiner Protagonistin spiegeln sich auch der Protest gegen den pädagogischen Rigorismus des Viktorianischen Zeitalters und die absurden ­Rituale der Erwachsenenwelt.
Solbergs witzig-raffinierte Familienstück-Inszenierung nimmt den kritischen Geist der Fantasiegeschichte auf und zeigt ein Mädchen, das auf dem Weg zur Selbstfindung immer mutiger die seltsamen Erscheinungen hinterfragt und schließlich sogar der tyrannischen roten Herzkönigin in die Parade fährt. Annina Euling spielt mit famoser Energie die aufgeweckte Alice, die durch Zaubermittel mal auf Spielzeugpuppen-Winzigkeit schrumpft und mal als Riesin bis an den Bühnenhimmel reicht. Ihre eigene Größe sucht und findet sie, wenn sie kurz einer Doppelgängerin (Annika Schilling) begegnet und sich so von außen betrachten kann. Timo ­Kählert verkörpert neben dem Kaninchen, dem Koch und der Zauberflasche noch allerhand weitere Geschöpfe. Alois Reinhardt ist u. a. der verzweifelte Schlüssel, der Wabbel und der Märzhasen-Rocker. David Hugo Schmitz spielt u. a. einen zuckersüßen Kuchen und den eleganten Hutmacher.
Im Flackerlicht passieren ständig atemberaubende Verwandlungen. Wenn Annika Schilling als wütende Spielkartenkönigin im feuerroten Kleid den Schauplatz betritt, flattern riesige rote Banner vom Himmel wie zu einem wahnsinnigen Politspektakel. Zu den bizarren königlichen Hobbys gehören Crocket-Matches mit Flamingos als Schlägern und vor allem Enthauptungen ihrer Untertanen. Doch Alice, Identifikationsfigur der jungen Zuschauer, hat keine Angst mehr und entlarvt die finale Gerichtsverhandlung als puren Unfug, bevor sie aufwacht aus ihrem Albtraum und die Wirklichkeit mit geschärftem Blick betrachten kann. Beglückter, langer Premierenapplaus mit Standing Ovations für den fantasievollen Ausflug ins Theaterwunderland. E.E.-K.

Spieldauer ca. 100 Minuten, keine Pause
Die letzten Vorstellungen: 22.12. // 25.12. // 26.12.21
Die Aufführung wird empfohlen für Publikum ab 10 Jahren.

Samstag, 01.01.2022

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