Mercedes - Werkstatt - Kultur Nr.168 - Januar/Februar 2022

Mercedes
Foto: Thilo Beu
Mercedes
Foto: Thilo Beu

Haltlose Träumer

Im November 2001 starb der Schriftsteller Thomas Brasch mit 56 Jahren. Aufgewachsen in Ostberlin als Sohn des stellvertretenden Kulturministers der DDR, 1976 mit seiner damaligen Lebensgefährtin Katharina Thalbach ausgewandert in den Westen. Zum 20. Todestag des rebellischen Sprachkünstlers kam nicht nur das hervorragende Filmdrama ­Lieber Thomas von Andreas Kleinert in die Kinos, auch die Theater entdecken den Bühnenautor neu. Das 1983 in Zürich uraufgeführte Stück Mercedes ist ein Sprechspiel um das bloße Dasein, ort- und zeitlos im Niemandsland von „No Future“ und utopischer Fantasie. Es ist ein Roadmovie ohne Ziel.
Einen Wagen mit dem berühmten Stern gibt es auf Wolf Gutjahrs mit weißen Planen bedeckte Bühne nicht. Nur zwei Figuren, die sich „Oi“ und „Sakko“ nennen, „bloß so“, weil sie mit niemandem identifiziert werden wollen, nicht mal mit sich selbst. „Oi!“ war zu Beginn der 1980er Jahre eine britische Punk-Rock-Bewegung gegen die etablierten Bands, ­„Sakko“ zitiert das legendäre italoamerikanische Anarchistenduo „Sacco und Vanzetti“. In der Inszenierung der ehemaligen Bonner Regieassis­tentin Julie Grothgar spricht Sandrine Zenner mit einem großen Maskenkopf den langen Prolog: „Die Regeln. Denen ich Halt gegeben habe. Die mich nicht befolgen. Die Regeln. Die aufgestellt wurden, mich aufzuhalten. Halt. Die eingehalten werden. Die mich aufhalten. Die mir Halt geben…“. Eine Weile frei sein wollen die beiden aus der Welt gefallenen, völlig halt- und orientierungslosen jungen Herumtreiber. Es gibt keine Motivation und keine dramatische Handlung. Oi und Sakko, späte Nachfahren von Becketts Estragon und Wladimir warten nicht mal mehr auf Godot.
Die beiden treffen sich zufällig irgendwo an einer Autobahn. Sakko ­(Christian Czeremnych) behauptet, Geld mit dem Überführen von Luxusautos zu verdienen. Vielleicht auch nur mit dem Zählen der vorbeifahrenden Wagen. Die schnippische Oi (Sandrine Zenner) im quietschgelben Zottelmantel (Kostüme: Maximilian Schwidlinski) gibt sich mal als abenteuerlustige Anhalterin, mal als Straßennutte. Eine angedeutete Liebesgeschichte läuft ins Leere, die beiden trennen sich, begegnen einander wieder und beginnen ein neues Rollenspiel. Sie flüchten, ohne zu wissen, wovor und wohin. Sie helfen ihrer Fantasie mit Rauschmitteln wie einem Stechapfel auf die Sprünge, probieren das Vergessen und erproben ihre Traumexistenzen auf dem Highway ins Nichts. Er will sich als Soldat verpflichten und kostümiert sich als Ritter. Sie beschimpft ihn und macht sich wütend lustig.
Am Ende ist jemand tot, und selbst ein T-Shirt mit Dürerhase nützt nichts mehr.
„Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin“, lautet eine vielzitierte Gedichtzeile von Thomas Brasch. Julie Grothgars vielschichtige Inszenierung mit der hervorragenden Sandrine Zenner und dem eindrucksvoll agierenden Christian Czeremnych beglaubigt das überzeugend. Langer, freundlicher Beifall.

Spieldauer ca. 75 Minuten, keine Pause
Die nächsten Termine: 21.12.2021
7.01. // 29.01. // 5.02. // 23.02. // 3.03.22



Samstag, 01.01.2022

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