Angst - Schauspielhaus - Kultur Nr.167 - Dezember 2021

Angst
Foto: Thilo Beu
Angst
Foto: Thilo Beu

Alte und neue Hexenjagd

Die „German Angst“ hat es wie der „Kindergarten“ in den englischen Sprachgebrauch geschafft. Im Theaterstück Angst wird sie nahe herangeholt und historisch parallel gesetzt mit den Hexenverfolgungen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Angst zählt zu den menschlichen Grundgefühlen wie Freude, Traurigkeit oder Wut. Angst entsteht als Reaktion auf Verunsicherungen angesichts konkreter Bedrohungen wie Naturkatastrophen oder Pandemien, Überforderung durch gesellschaftliche Komplexität, Kontingenzerfahrungen und den Verlust verbindlicher Normen. Angst entfaltet oft eine Eigendynamik, weitet sich auf verschiedene Lebensbereiche aus oder wird auf Ersatzobjekte projiziert. Angst macht manipulierbar.
Im Bonner Schauspielhaus wurde nun das neue Stück Angst des hier von etlichen Regiearbeiten (von Waffenschweine bis Bonnopoly und zuletzt einem unvergesslichen Fidelio in der Oper) bestens bekannten Volker Lösch uraufgeführt. Er widmet sich gern brisanten Gegenwartsthemen, lässt Chöre von Alltagsexperten zu Wort kommen und fordert Positionsbestimmungen ein. Zusammen mit den Autoren Lothar Kittstein und Ulf Schmidt hat er sich 2020 mit vielen Corona geschuldeten Unterbrechungen auf die Suche nach Ursachen und Folgen eines diffusen Phänomens begeben, das seit Jahrhunderten die Menschen in Abgründe treibt. Wovor sie Angst haben, wurden Bonner Bürgerinnen und Bürger im Vorfeld gefragt. Die meistgenannten privaten Sorgen kreisen um Statusverlust, Armut und Einsamkeit, Krankheiten, Kriege und Umweltzerstörung oder ganz allgemein die unüberschaubare Zukunft. Ihre ernsthaften Unsicherheiten bilden das Ausgangsmaterial für den rasanten Albtraumtanz durch alle angstbesetzten Lebensgebiete.
Dazwischen tauchen Politikverdrossenheit, Misstrauen gegenüber Institutionen und Schuldzuschreibungen auf: unkontrollierte Migration, Globalisierung, grenzenlose Toleranz, Antirassismus, Genderkorrektheit, Fake News, Lügenpresse und all die anderen in den sogenannten sozialen Medien hochgekochten Angstmacher. Daneben tummeln sich miss­trauische Impfgegner, Identitätsideologen, Neonazis, Verschwörungsfantasien und Verleumdungen jeder Couleur. Alles längst abgedroschen, spätestens nach einer halben Stunde ist die gute Aufklärungsabsicht klar. Wenn da nicht unversehens ein anderer Ton ins Spiel käme. Die Inszenierung verkoppelt die apokalyptischen Befindlichkeiten im Corona-Jahr 2020 mit einem Rückblick auf die Hexenverfolgungen, die im Bonner Raum um 1630 mit besonderer Brutalität wüteten.
Was wie ein Rückfall ins finstere Mittelalter erscheint, spielte sich am Ende der frühen Neuzeit ab, als das Bürgertum sich längst gesellschaftlich seinen Platz erobert hatte. Die Menschen in Stadt und Land waren durch klimatische Veränderungen, Krieg und Seuchen, wirtschaftlichen Niedergang und konfessionelle Indoktrination verunsichert und somit anfällig für die aggressive Suche nach Sündenböcken. Oft gepaart mit Sozialneid und pseudowissenschaftlicher Tarnung. Dass der unbelehrbare ehemalige Präsident der USA die Kritik an seiner Amtsführung als „Hexenjagd“ bezeichnete, ist da eine bitter absurde Pointe.
Das Schauspielensemble – von Kostümbildnerin Teresa Grosser zumeist in geschlechtsneutrale schwarze Gewänder gekleidet, bei einem wilden Hexenfest jedoch unverhüllt mit markanten Attributen prunkend – wechselt bravourös zwischen den verschiedenen Sprachebenen. Aus dem Chor der Verängstigten und Angstverführer treten einzelne Figuren hervor und verschwinden wieder in der Masse der Unzufriedenen. Markus J. Bachmann als verbaler Scharfschütze, Sophie Basse als rheinische Frohnatur (ihr Henkersauftritt mutiert zur karnevalistischen Büttenrede), Linda Belinda Podszus als der Hexerei bezichtigte verzweifelte Dienstmagd, David Hugo Schmitz als beweglicher Freigeist, Lydia ­Stäubli mit Regenbogenshirt als naive Menschenliebe-Predigerin, Lena Geyer als Klägerin gegen alle Ungeheuer, der großartige Daniel Stock als gnadenloser Justizkommissar Franz Buirmann und Sandrine Zenner als unerschütterliche Verfechterin der guten Ordnung – alle sind geradezu beängstigend virtuose Darsteller in einem zwischen Banalität und ­Schre­cken changierenden System von brüchiger Zivilisation und struktureller Gewalt.
In einer langen Passage erscheinen per Video etliche Opfer von Hassmails und Morddrohungen des rechtsradikalen Mobs: Ausländer, LGBTQ-Mitglieder, Umweltschützer, Kommunalpolitiker. Die riesige runde Scheibe, die Bühnenbildner Valentin Baumeister in den Raum gestellt hat, dreht sich immer schneller und kippt schließlich fast in eine Senkrechtstellung, die nur noch mit Sicherheitsgurten bespielbar ist. Die sehen aus wie Fußfesseln, und jeder bezichtigt nun jeden. Der Wahnsinn nimmt seinen Lauf, die Folter erzwingt tödliche Geständnisse, die Scheiterhaufen brennen.
Die Parallele zwischen historischer Hexenjagd und heutiger Anfeuerung von Ängsten zur Vertuschung von gesellschaftlichen Konflikten, zur ­ideo­logischen Instrumentalisierung oder zum Machterhalt von politischen Systemen ist gedanklich zwar etwas unterkomplex, wird aber solide getragen von der fulminanten Energie des Schauspielensembles. Unter die Haut geht am Schluss die namentliche Nennung der Opfer – sowohl der alten Hexenprozesse wie auch der neueren Geschichte bis hin zur Ermordung eines jungen Tankstellenkassierers in Idar-Oberstein, der auf die Maskenpflicht hinwies.
Nach einer ermüdenden moralischen Lektion in Sachen verteufelter Angstbeschwörung respektvoller Beifall. E.E.-K.

Spieldauer ca. 2 Stunden, keine Pause
Die nächsten Vorstellungen: 28.01. / 4.02.22

Mittwoch, 01.12.2021

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