Istanbul. Ein Sezen Aksu Liederabend - Schauspielhaus - Kultur Nr.167 - Dezember 2021

Istanbul
Foto: Thilo Beu
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Foto: Thilo Beu

Musikalische Reise voller Überraschungen

Es ist eine klassische „Was wäre, wenn“-Fiktion. Was wäre, wenn vor rund sechzig Jahren im völlig verarmten Deutschland hohe Arbeitslosigkeit geherrscht hätte und die aufstrebende Wirtschaftsmacht Türkei viele tausend Arbeitskräfte aus der Bundesrepublik eingeladen hätte, dem großen Land im nahen Osten zu helfen beim Aufbau der florierenden Industrie? Wenn also ein Klaus Gruber aus Bonn sich nach diversen demütigenden Gesundheitstests auf die beschwerliche Reise nach Istanbul begeben hätte, um dort das Geld für den Lebensunterhalt seiner Familie zu verdienen?
Das 2015 am Theater Bremen uraufgeführte Stück Istanbul, kreiert von der Regisseurin Selen Kara, dem Musiker Torsten Kindermann und dem Autor Akin Emmanuel Sipal, spielt vergnüglich mit diesem Perspektivwechsel. Istanbul wurde seitdem an etlichen deutschen Bühnen inszeniert. In Bonn hat es nun Roland Riebeling, der viele Jahre Mitglied des Bonner Schauspiel-Ensemb­­les war und zuletzt hier als Regisseur mit der Komödie Shakespeares sämtliche Werke (leicht gekürzt) einen großen Erfolg feierte, erfrischend neu auf die Bühne gebracht. Um es gleich vorwegzusagen: Der Applaus bei der ausverkauften Premiere im Schauspielhaus war zu Recht phänomenal.
Riebeling, der am Schauspiel Bochum die Rolle des deutschen Arbeitsmigranten Klaus selbst verkörperte, vermeidet geschickt alle folkloristischen Klischees, lässt auch die aktuellen politischen Spannungen in der Türkei bewusst außen vor und konzentriert sich auf den Unterhaltungswert der Geschichte. Vor allem auf die Musik, die letztlich die dramatische Handlung trägt und mit ihrer schlichten Poesie von universalen Gefühlen wie Liebe, Melancholie, Sehn- und Eifersucht erzählt. Die Lieder von Sezen Aksu, der 1954 geborenen ‚Mutter der türkischen Popmusik‘ sind das stabile Gerüst der mit Tempo und Spiellust überzeugenden Aufführung. Gesungen werden sie auf Türkisch mit direkt ins Bühnengeschehen eingeblendeten Originaltexten und deutschen Übersetzungen. Etliche im Publikum beherrschen offenbar beide Idiome und sind mit den Hits der legendären ‚Madonna vom Bosporus‘ bestens vertraut.
Der musikalische Leiter Torsten Kindermann, ursprünglicher Ideengeber des Theaterstücks, hat die Songs neu arrangiert. Gemeinsam mit Koray Berat Sari, Jan-Sebastian Weichsel und der fabelhaften Ceren Bozkurt bildet er ein nicht nur an zahlreichen Instrumenten virtuos aufspielendes Quartett. Die vier Live-Musiker sind auch sängerisch und darstellerisch ständig aktiv. Im effektvollen, mit charmanten Details liebevoll entworfenen Bühnenbild von Thomas Rupert (übernommen aus Bochum und neu eingerichtet von Isabell Ziegler) entfaltet sich zwischen der heutigen westlichen Skyline der Metropole Istanbul, ihrem byzantinischen Wahrzeichen Galataturm und einer Projektion des Innenraums der Blauen Moschee das kleine Leben der Einheimischen und Zugezogenen. Links eine traditionelle Bar, rechts die winzige Behausung (Bude wäre dafür schon ein Euphemismus, sehr witzig lässt sich auf der Rückseite das Mobiliar der Wohnung im heimischen Graurheindorf ausklappen) des Gastarbeiters Klaus im ärmlichen Stadtteil Balat, in der Mitte eine mit Teppichen bedeckte Bühne für die große Show der Gewinner und Verlierer.
David Hugo Schmitz (seit der Spielzeit 20/21 hier fest engagiert) spielt Klaus‘ Sohn Deniz, der die Story in Gang bringt. Vom Ende her, denn in der Bonner Fassung beginnt Istanbul mit der Trauergemeinschaft an der väterlichen Urne. Um dann rasch in die Zeit zurückzuspringen, als Klaus Frau, Kind und den geliebten Fußballverein im Rheinland zurückließ und mit zwei leichten Koffern den Zug in die Türkei bestieg. Timo Kählert verkörpert berührend den schüchternen kleinen Mann aus der deutschen Provinz, der in der turbulenten Metropole am Bosporus nach vielen unvermeidlichen Missverständnissen langsam Fuß fasst. Der ungemein wandlungsfähige Christoph Gummert spielt brillant seinen Begleiter Ismet, der den Fremdling in die Bräuche seiner Umgebung einführt, und nebenbei auch im feuerroten Fummel (tolle Kostüme: Nini von Selzam) einen Auftritt als Trans-Diva hat. Sophie Basse gibt hinreißend die schöne Ela, die sie die Circe von Balat nennen, und die dem netten Kerl aus Deutschland ordentlich den Kopf verdreht. Bis seine Gattin Luise anreist, schwanger wird und bleibt. Lydia Stäubli spielt zugleich warmherzig und streng die bodenständige Lebensgefährtin, die irgendwann begreift, dass die Rückkehr in die alte Heimat eine Illusion ist. Die Kinder sprechen längst besser Türkisch als Deutsch, das mit dem sauer verdienten Geld gebaute neue Haus in Graurheindorf wird die Familie nie wirklich bewohnen. Und Deniz beginnt ein Schauspielstudium – an eben der Istanbuler Hochschule, an der Selen Kara einst ihre Theaterkarriere begann.
Die fünf Ensemble-Mitglieder präsentieren neben ihren Hauptrollen noch viele andere Figuren und tanzen in der mitreißenden Choreografie von Arzu Erdem-Gallinger famos durch die humorvoll erzählte Geschichte. Vor allem jedoch singen sie so selbstverständlich auf Türkisch, als ob es ihre Heimatsprache wäre. Ein Kompliment für sein Sprachcoaching verdient der bilinguale Regieassistent Yunus Wieacker. Istanbul ist zwar auch ein Beitrag zum 60-jährigen Jubiläum des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei. Das wird jedoch fast zur Nebensache angesichts der grandiosen Spiellust aller Akteure. Die wurden bei der Premiere mit einem Beifallssturm, begeisterten Jubelrufen und Standing Ovations belohnt. Die Aufführungen sind seitdem regelmäßig ausverkauft und locken viele Menschen mit türkischen Wurzeln ins Theater. Ein Besuch ist unbedingt empfehlenswert!
E.E.-K.

Spieldauer ca. 2 Stunden (inkl. Zugaben), keine Pause
Die nächsten Termine: 18.01. // 19.01. // 29.01. // 1.02.22

Mittwoch, 01.12.2021

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