Unsere Welt neu denken- Schauspielhaus - Kultur Nr.166 - Oktobe 2021

Unsere Welt neu denken
Foto: Thilo Beu
Unsere Welt neu denken
Foto: Thilo Beu

Energischer dramatischer Appell

Als eine Einladung bezeichnet Maja Göpel ihr 2020 beim Ullstein-Verlag erschienenes Sachbuch Unsere Welt neu denken. Das sehr anschaulich geschriebene Werk wurde rasch zu einem Bestseller. Die FAZ zählt die 1976 in Bielefeld geborene Autorin zu Deutschlands einflussreichsten Ökonominnen. Jessica von Blazekovic, Wirtschaftsredakteurin bei der FAZ, beschrieb in ihrer Rezension das Buch als „gelungenen Versuch, Menschheitsgeschichte von der Evolution des Homo sapiens bis zu ­Greta Thunberg, ökonomische Theorie von Adam Smith bis Thomas Piketty, Umweltforschung und Systemkritik in eine kurzweilige Lektüre zu verpacken.“
Kurzweilig ist auch die Inszenierung von Hausregisseur Simon Solberg, mit der das Schauspiel Bonn seine neue Spielzeit eröffnete. Solbergs Team ist das Kunststück gelungen, aus einem populärwissenschaftlichen Essay einen sinnlich überzeugenden ­Thea­ter­abend zu gestalten. Göpel spricht in ihrem Buch die Leser*innen (sie gendert konsequent, was mitunter sonderbare Stilblüten hervorbringt) oft direkt an. Diese dialogische Struktur wird in der Bühnenversion – ein Sonderlob verdient der Dramaturg Jan ­Pfannenstiel – dramatisch zugespitzt und zudem musikalisch erweitert. Das Ensemble überzeugt vor allem gegen Ende mit Songs, die unter die Haut gehen. Gleich zu Beginn kann das Publikum wählen, ob es Klassik, Jazz oder ­Hiphop hören möchte, wobei sich bei der ­ersten Vorstellung eine deutliche Mehrheit für letzteres entschied. Die Musiker Lukas Berg, Friedrich Dinter und Joonas Lorenz liefern jedenfalls live einen tollen Sound zu der großen Expedition in die Denkmodelle, die uns zu dem machten, was wir nun sind: Egoistische Verbraucher von endlichen Ressourcen.
Zwei Forscherinnen und zwei Forscher in ihrem Zukunftslabor auf der Suche nach den Ursachen für die überall wahrnehmbare Schieflage unseres Planeten. Eine noch längst nicht ausgestandene Pandemie, Dürren und Flutkatastrophen – man muss nicht weit und lange suchen, um zu begreifen, dass wir unsere Lebensweisen „neu denken“ müssen. Nüchtern denken, also bitte keine apokalyptischen Visionen, keine schlichten Weltrettungsfantasien und keine selbstgenügsame Melancholie. Zunächst also mal alles auf Anfang: Die große Uhr im Hintergrund wird zurückgestellt von 2021 auf Null. Urknall, Schöpfungsmythen („macht euch die Erde untertan“), Galileis neues Weltbild, die Eroberung ferner Kontinente, Kolonialismus, Aufklärung, naturwissenschaftliche und politische Umwälzungen – ein didaktischer Schnelldurchlauf bis zur Erfindung des Homo oeconomicus. Der Brite Adam Smith taucht auf, Begründer der klassischen Nationalökonomie im 18. Jahrhundert. Von der Erfindung der Dampfmaschine geht die Reise bis zur Digitalisierung. Wachstumsideologie, Wirtschaftskrisen, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als universale Messgröße für den Fortschritt: Alles nicht brandneu, aber auf Solbergs Bühne mit rasantem Tempo und fabelhafter spielerischer Energie so nachdrücklich präsentiert, dass die Notwendigkeit reflektierenden Innehaltens sinnfällig wird.
Im goldglänzenden Anzug mit entsprechender Perücke (Kostüme: Katja Strohschneider) verkörpert Daniel Stock den gierigen Kapitalismus, tobt mit wechselnden Dialekten durch die Gut-Böse-Dialektik der Marktwirtschaft und zelebriert die Distinktions-Magie der bunten Warenwelt. ­Alois Reinhardt tanzt mit vollem Körpereinsatz durch den zunehmenden Irrsinn der globalisierten Wirtschaftsmechanismen mit ungeheurer Verschwendung in den Wohlstandsländern und elementarem Mangel dort, wo die saturierten Gesellschaften unter teils menschenunwürdigen Bedingungen das produzieren lassen, was sie dann gedankenlos vernichten. Das neue Ensemblemitglied Linda Belinda Podszus hat einen großen Auftritt als Werbe-Glamourgirl auf einem grünen PKW – Greenwashing gehört zu den gängigen Tricks nicht nur der Autoindustrie.
Den eindringlichsten Moment hat indes Annika Schilling, die ansonsten als eine Art Alter Ego der nachdenklichen Transformations-Ökonomin fungiert, in der Rolle von Mutter Natur. Ihr Gesicht als riesige 3D-Projektion signalisiert Wut und Empathie, Trauer und Mut. Die Dienstleistungen der fahrlässig ausgebeuteten Natur übertreffen alle BIPs der Welt bei weitem, werden aber nirgendwo eingepreist. Das muss sich ändern. Aber wie? Denn es gibt viel zu viele Dinge auf der Welt, die sind „leider geil“, wie es in dem vom aufgeweckten Ensemble großartig präsentierten Deichkind-Song heißt.
Plastikmüll, Fast ­Fashion und Hunger sind ebenso im Infotainment-Angebot wie Roboterbienen und die Reise einer Nordseekrabbe übers Mittelmeer auf unsere Teller. Am Ende zappeln die Akteure ratlos in einem Netz aus Tauen und kaum zu bändigenden Schläuchen. Abschied vom Auslaufmodell des Homo oeconomicus und dem Narrativ des ewigen Wachstums? Neue Technologien, radikaler Konsumverzicht? Jedenfalls lernt man einiges über die Trickle-Down-Theorie, das Easterlin-­Paradox und die reale Utopie einer kooperativen Lebendigkeit. Einfache Antworten auf die vielen Fragen gibt es nicht. Die Inszenierung ist kein aufdringliches Lehrstück, sondern unterhaltsames Theater mit viel Live-Musik und szenischer Fantasie.

Vertiefen kann man die Einsichten durch einen dem gedruckten Programmheft beigefügten QR-Code, der ein digitales Programmheft öffnet mit Videobeiträgen etlicher Bühnen von Bern bis Kiel und vielen Informationen zum Weiterdenken. Begeisterter Beifall und Standing Ovations für alle auf und hinter der Bühne Mitwirkenden. E.E.-K.

Spieldauer ca. 1:50 Std., keine Pause
Die nächsten Termine: 16.10. // 9.11. // 25.11.21

Freitag, 01.10.2021

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Letzte Aktualisierung: 28.03.2024 16:01 Uhr     © 2024 Theatergemeinde BONN | Bonner Talweg 10 | 53113 Bonn