Chicago - Oper Bonn - Kultur Nr.166 - Oktober 2021

Chicago, Theater Bonn
Foto: Thilo Beu
Chicago, Theater Bonn
Foto: Thilo Beu

Die fabelhaften Killergirls

Der Jazz war schuld. Schon die erste Szene in Gil Mehmerts Inszenierung ist spektakulär. Velma Kelly schwebt als Superstar im sexy Outfit auf einem senkrecht gehängten Bett vom Bühnenhimmel und singt dabei mit einer Mischung aus Stolz und Wut die „Chicago“-Hymne „All That Jazz“. ­Bettina Mönch, die an der Bonner Oper bereits in der Titelpartie des Musicals „Evita“ glänzte, ist in der Rolle der Varieté-Tänzerin und
-sängerin Velma schlicht ein Ereignis. Mit umwerfender Energie tobt sie durch die Geschichte, scheut vor fast akrobatischen Tanznummern nicht zurück und zieht stimmlich alle Register vom Schmeichelkätzchen bis zur zornigen Furie. Leider hat die temperamentvolle Velma ihren Gatten und ihre Schwester in flagranti erwischt und beide erschossen und landet im Gefängnis. Dort erscheint bald auch die entzückende Blondine Roxie Hart. Am Abend, als die Show-Diva verhaftet wurde, war die aufstrebende junge Künstlerin, eine von Velmas glühendsten Fans, mit ihrem Lover zu Gast bei deren vorläufig letztem Auftritt. Roxie erschoss ein paar Stunden später ihren nur auf Sex erpichten Fred, der viel versprach und nichts hielt. Die großartige Elisabeth Hübert ist als Roxie mit Marylin-Monroe-Ausstrahlung der perfekte Gegensatz zu dem schwarzhaarigen Biest Velma.
Im fidelen Frauenknast von Chicago – im genialen Bühnenbild von Jens Kilian fungieren Gitterstäbe gern auch mal als Polestangen, die freizügigen Kostüme von Falk Bauer suggerieren einen eher lockeren Strafvollzug – führt Mamma Morton ein strenges Regiment. Dionne Wudu übernimmt neben der Rolle der korrupten Gefängnisaufseherin auch die Funktion der Show-­Masterin, die mit zynischem Charme durch die amoralische Geschichte führt. Die hat ihren Ursprung im Chicago der Roaring Twenties, ­Gangster-, Gauner- und Drogenmetropole mit aufblühender Unterhaltungs- und Medienlandschaft. 1926 erschien das satirische Drama ­Chicago der Reporterin Maurine Dallas Watkins, die über spektakuläre Gerichtsprozesse berichtet hatte. Auf ihren Erfahrungen basiert die Story des Musicals von John Kander (Musik), Fred Ebb (Buch und Gesangs­texte) und Bob Fosse (Choreografie), das 1975 am Broadway uraufgeführt wurde. Knapp zehn Jahre nach ihrem bekanntesten Werk „Cabaret“ gelang dem Duo Kander/Ebb mit Chicago ein neuer großer Erfolg. Zeitweise geriet das Stück zwar etwas aus dem Blick der internationalen Bühnen, feierte jedoch 1996 in New York ein fulminantes Revival. 2001 kam die brillante Verfilmung von Rob Marshal mit den Stars Renée Zellweger, Catherine Zeta-Jones und Richard Gere in die Kinos. Um es gleich zu sagen: Die Bonner Produktion kann durchaus konkurrieren mit dem legendären Leinwand-Ereignis.
Die nebenbei auch als Show-Agentin aktive Mamma Morton macht mit ihrem Song „Wenn du gut bist zu Mamma“ schnell klar, dass sie gegen entsprechende Belohnung einiges zu bieten hat. Zum Beispiel den ­erfolg­­reichen Anwalt Billy Flynn, der als Verteidiger hübscher Klientinnen keine Mühen scheut. Anton Zetterholm verkörpert perfekt diesen ebenso eleganten wie gewissenlosen Juristen, der eigentlich Velma verteidigen sollte, aber nun plötzlich Roxie unter seine Fittiche nimmt. Für die willige Presse bekommt das ‚unschuldige‘ Mädel eine rührende neue Biografie – eine Glanznummer ist sein Theaterauftritt mit Roxie als Marionette mit quietschender Bauchrednerstimme. Als ausgerechnet deren Zellennachbarin, die brave ungarische Ballerina Hunyak (Rachel ­Marshal) am Galgen endet, sind neue Schlagzeilen erforderlich. Roxie bekommt ein Baby! Als stolzer Vater meldet sich ihr geistig leicht verwirrter, aber unerschütterlich treuer Gatte Amos. Enrico de Pieri berührt als trauriger „Zellophanmann“, den niemand wahrnimmt. Nicht mal die einflussreiche Boulevardjournalistin Mary Sunshine, die auf einem schimmernden Halbmond ins Show-Imperium schwebt und dabei Soprankoloraturen zelebriert, die selbst eine Königin der Nacht neidisch machen könnten. V. Petersen (der Vorname bleibt aus guten Gründen geheim) beweist, dass nichts so ist, wie es scheint.
Währenddessen eskaliert der Krieg zwischen der plötzlich in den Hintergrund verbannten Velma und ihrer ins Rampenlicht vorgerückten Konkurrentin Roxie. Deren Ruhm verblasst indes schnell. Noch während Anwalt Billy mit blendendem Sarkasmus das Hohe Gericht als puren Show-„Hokuspokus“ entlarvt, krachen Schüsse. Eine neue Männermörderin lockt die Medienmeute an. Mord als Unterhaltungsgeschäft funktioniert ohne Zweifel immer noch – nicht nur im historischen Chicago. Die Geschworenen entscheiden „In dubio pro Roxie“, und auch Velma bekommt ihren teuer erkauften Freispruch. Die beiden müssen ja nicht gleich Freundinnen werden, um als frivoles Killergirl-Duo (zwei unverschämte Verbrecherinnen sind schließlich aufregender als eine) in eine neue Karriere zu starten.
In der rasanten Choreografie von Jonathan Huor tanzt das ganze Ensemble wie ums Überleben. Für viel Glanz und Glamour im Justiz-Showpalast sorgt das Licht von Boris Kahnert. Die im Hintergrund auf der Bühne platzierte exzellente Jazz-Band (leider werden die Musiker im Programmheft nicht namentlich genannt) unter der Leitung des versierten Dirigenten Jürgen Grimm liefert den schwungvollen Sound zum unwiderstehlichen Spiel mit Sex and Crime. Sofort nach dem letzten Ton fulminanter Premierenapplaus mit kaum enden wollenden Standing Ovations. E.E.-K.
Für Publikum unter 14 Jahren eher nicht geeignet, für alle anderen jedoch ein erstklassiger Cocktail aus prickelnder Musical-Leidenschaft und bitterböser Ironie.

Spieldauer ca. 2 ½ Stunden inkl. einer Pause
Die nächsten Termine: 3.10. // 14.10. // 23.10. // 1.11. // 28.11.21
und 14 weitere Termine ab Dezember

Freitag, 01.10.2021

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