Vor Sonnenaufgang - Schauspielhaus - kultur 160 - November 2019
- Vor Sonnenaufgang
Foto: Thilo Beu
Vor Sonnenaufgang
Foto: Thilo Beu
Vereinsamt im Überfluss
Alle haben sich ihr Leben anders vorgestellt. Die Ideale und Gefühle haben sich mit der Zeit verflüchtigt. Die Familie lebt perspektivlos vor sich hin. „Die Zeit der Wunder ist vorbei“, konstatiert Helene nüchtern. „Aber deswegen weinen wir nicht / wir weinen überhaupt nicht mehr.“ Helene, famos gespielt von Sophie Basse, ist die Außenseiterin der Familie Krause. Eine Performance-Künstlerin, der die Regie deutliche Ähnlichkeit mit Marina Abramovic verleiht, inkl. den Rinderknochen ihrer Arbeit „Balkan Baroque“. Der vielfach ausgezeichnete österreichische Dramatiker Ewald Palmetshofer, Jahrgang 1978, holte bereits etliche alte Bühnenwerke in die Gegenwart. Vor Sonnenaufgang, uraufgeführt 2017 in Basel, ist eine moderne Überschreibung von Gerhart Hauptmanns gleichnamigem Stück, das 1889 einen legendären Theaterskandal auslöste. Sein dramatisches Debüt machte den späteren Literatur-Nobelpreisträger schlagartig berühmt und etablierte den Naturalismus im deutschen Theater.
Palmetshofer übernimmt die Konstellation der Hauptpersonen und die Handlungsstruktur, mischt abgebrochene Sätze rhythmisch kunstvoll mit klassischen Jamben und paraphrasiert brillant das Original. Der Alkoholismus, bei Hauptmann noch ein zentrales Motiv neben dem fatalen Determinismus, ist hier zurückgenommen zugunsten von neuen Zivilisationskrankheiten und der Angst vor Vergangenheit und Zukunft. Kein Wunder, dass seine hochaktuelle Version derzeit auf etlichen Bühnen präsentiert wird. In aller Kürze: Die Familie Krause, wohnhaft im ländlichen Speckgürtel einer Großstadt, ist durch diverse Zufälle reich geworden und führt ein ziemlich florierendes mittelständisches Unternehmen aus der Autozulieferbranche. Papa Egon ist meistens besoffen und hat nach dem frühen Tod seiner ersten Gattin, Mutter seiner beiden Töchter, seine einstige Sekretärin Annemarie geheiratet. Die Geschäfte leitet Thomas Hoffmann, Ehemann von Krauses Tochter Martha und Schwager von deren Schwester Helene.
Die sensible Inszenierung von Sascha Hawemann ist ein absurder Totentanz einsamer Menschen um das goldene Kalb des Kapitals. Ein absolutes Meisterwerk ist die Bühne von Wolf Gutjahr: Ein riesiger hölzerner Kasten, der sich ständig um sich selbst dreht, überraschend Szenen öffnet und schließt, Hintergründe sichtbar macht und gnadenlos ausleuchtet. Verschwommen erscheinen die Erinnerungsbilder: Egons Nazi-Vater, die Fabrikarbeiter aus der Wirtschaftswunderzeit und die unermüdlichen Industrieroboter, soziale Utopien und die große Friedensdemo gegen den Nato-Doppelbeschluss im Bonner Hofgarten 1981. Alfred Loth und sein Studienfreund Thomas waren vermutlich nicht dabei, hängen aber an ihren längst überholten Narrativen. Der linkspopulistische, eitle Journalist Alfred, der das brüchige Familienidyll aus dem Lot bringt, besucht zwecks Gegenwarts-Recherche die Krauses und landet in einer wohlstandsverwahrlosten Hölle. Holger Kraft spielt überzeugend den ernüchterten Idealisten mit Knasterfahrungen und robusten Zweifeln an echten Gefühlen.
Grandios verkörpert Daniel Stock den neuen Firmenboss Thomas, der mit sorgfältig gegelter Frisur gern lässig im goldfarbenen Morgenmantel mit billigen Adiletten (Kostüme: Ines Burisch) herumschlurft und auf einer rechtspopulistischen Parteiliste beste Chancen auf eine seinen wirtschaftlichen Interessen förderliche Position hat. Lena Geyer stolpert als hochschwangere Martha (bei Hauptmann kommt sie als Bühnenfigur gar nicht vor) im rosa Babydoll-Outfit infantil zurückgeblieben auf silbernen Stöckelsandalen der Hausgeburt des Kronprinzen der neureichen Proleten entgegen und erschreckt ihre Angehörigen mit hysterischen Kreisch- und Zitteranfällen. Ursula Grossenbacher gibt die frustrierte Stiefmutter, mit strohblonder Mähne und unerschütterlicher Haltung aufgestiegen ins kalte Gespensterleben einer saturierten Gemeinschaft. Eine Karikatur der alten Generation liefert der junge Christoph Gummert als jovialer Seniorchef Egon Krause, bewehrt mit Sonnenbrille, zotteliger grauer Langhaarperücke und Hang zu nicht ganz standesgemäßen Kneipenabenden. Als Hausarzt Peter Schimmelpfennig trippelt Timo Kählert im feist ausgestopften weißen Anzug um die unheilbar verstörten Gestalten.
Immer wieder erscheinen unscharf niedliche Kindheitsbilder der mittlerweile erwachsenen Töchter, was frühen Missbrauch suggeriert. Genau diese Gedächtnis-Unschärfe nutzt Regisseur Hawemann zur messerscharfen Zeichnung von Figuren und der Blickschärfung für das Politische im scheinbar Privaten. Kurz vor der Pause nach knapp zwei Stunden teilen sich Helene und Alfred eine Zigarette. Wortlos zwischen Koketterie und aufkeimender Leidenschaft. Nach diesem kostbar stillen Moment braucht es nur noch eine halbe Stunde bis zum tristen Finale. Marthas Kind kommt tot zur Welt, Alfred macht sich nach der Nacht mit Helene rechtzeitig vor Sonnenaufgang aus dem Staub. Der Rest ist hoffnungslos, aber insgesamt ein schauspielerisches Glanzstück.
Langer, mit einigen Bravos durchsetzter Premierenbeifall. E.E.-K.
Spieldauer ca. 2½ Stunden, inkl. Pause
Die nächsten Vorstellungen:
3.11. // 9.11. // 20.11. // 30.11. // 27.12.19
Mittwoch, 01.01.2020
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