Jakob der Lügner - Werkstatt - kultur 152 - Januar 2019

Jakob der Lügner
Foto: Thilo Beu
Jakob der Lügner
Foto: Thilo Beu

Vom Überleben und möglicher Hoffnung

Von Bäumen (auf der Bühne ist es eine kleine Palme) erzählt er gern. Bäume bedeuten Leben. Unter einem Baum wurde seine Frau Chana erschossen. Er war nicht dabei und sagt es fast beiläufig. Aber plötzlich ist diese Zeit wieder Gegenwart. Bäume und alle anderen Pflanzen waren strengstens verboten im Ghetto von Lódz, in dem der Autor Jurek Becker (1937 – 1997) aufwuchs. Seinen berühmtesten Roman Jakob der Lügner hat der bei Bonn lebende Schauspieler Stefan Viering (*1946), derzeit engagiert im Musical Kiss me, Kate, zusammen mit der Regisseurin Jutta Berendes zu einem Solo-Abend gestaltet, der mit seinem konzentrierten theatralen Minimalismus tief unter die Haut geht.
Ein paar Bildeinblendungen, wenige Requisiten und ein überlebender Erzähler, der leise rekonstruiert, was seinem Freund Jakob Heym widerfuhr, nachdem er trotz Ausgangssperre abends unterwegs war und zufällig im Lagerhauptquartier der Nazis die Radio-Nachricht hörte, dass die Rote Armee schon ganz nah sei.
Der Jude Jakob wurde an diesem Abend zufällig nicht hingerichtet und begann ein riskantes Hoffnungswerk. Eigentlich nur, um seinen hungrigen jungen Arbeitskollegen Mischa am Güterbahnhof vom gefährlichen Kartoffelklauen abzuhalten. Jakob behauptet, ein streng verbotenes Radio zu besitzen und zu wissen, dass ein Ende des Grauens absehbar sei. Eine Lüge, die sich wie ein Lauffeuer verbreitet, die Selbstmordrate senkt und die Menschen an eine mögliche Zukunft denken lässt. Virtuos springt Viering aus der Erzählerfiktion und nüchternen Leseposition in Figuren und Situationen eines entsetzlichen Daseins, das durch Jakobs erfundene Nachrichten plötzlich erträglicher wird. Ungemein berührend ist der musikalische Märchendialog mit der kleinen Lina, deren Eltern längst zur Vernichtung weggeschafft wurden. Mischa macht seiner Freundin Rosa sogar einen Heiratsantrag, während deren bildungsbürgerliche Eltern abtransportiert werden. Jakobs Freund Herrschel macht den Todeskandidaten in einem Viehwagon auf dem Weg zu den Gas­kammern noch Lebensmut und wird erschossen. Jakobs Freund Kowalski erhängt sich, nachdem die Radio-Lüge entlarvt ist.
„Und der Widerstand?“, wird man einst fragen. Wurde er erstickt durch die barmherzige Täuschung eines Menschenfreundes? War alles falsch, was Jakob erfand, um in der Düsternis ein winziges Licht zu entzünden? Die hervorragende Produktion des Studio-Theaters Stuttgart stellt bei ihrem Bonner Gastspiel sehr ernsthafte Fragen. Bei der besuchten, außerplanmäßigen Vorstellung zeigte sich eine große Schülergruppe aus Siegburg zutiefst beeindruckt. Für konsumsüchtige Party-People ist die Aufführung eher nicht geeignet, aber manche freuen sich schon mal über nicht so leicht verdauliche Geisteskost. E.E.-K.

Spieldauer ca. 2 Stunden, inkl. Pause
Die nächsten Vorstellungen:
17.01. (ausverkauft) //1.02. // 9.02.19

Mittwoch, 30.01.2019

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