Jeder stirbt für sich allein - Kammerspiele - kultur 146 - Mai 2018

Jeder stirbt für sich allein
Foto: Thilo Beu
Jeder stirbt für sich allein
Foto: Thilo Beu

Tanz mit der Angst

In dem Berliner Mietshaus leben sie unter ständiger Beobachtung. Ausstatterin Sabine Kohlstedt (Bühne und Kostüme) hat aus unterschiedlich großen Fenstern einen runden, ständig rotierenden Glaskäfig konstruiert. Manchmal rennt jemand gegen die spiegelnden Scheiben und ist tot. Regisseurin Sandra Strunz vermeidet in ihrer Inszenierung von Jeder stirbt für sich allein jeden hölzernen Kino-Realismus. Es ist eine präzis choreografierte Vorstellung, bei der die Körper Angst, Misstrauen und Gewalt internalisiert zu haben scheinen. Otto Quangel (großartig: Matthias Breitenbach) trägt seine Frau Anna (sehr berührend: Silvana Krappatsch) einmal wie eine Puppe kopfüber auf seinen starken Tischlerhänden. Tiefe Gefühle kann dieser Mann nicht ausdrücken weiß aber, dass etwas getan werden muss.
Die Quangels waren schlichte Mitläufer der Nazis, bis ihr einziger Sohn 1940 im Krieg fiel. Otto begann, Postkarten gegen die Diktatur zu schreiben und in den Treppenhäusern zu verteilen. Ein privater Widerstandsakt ohne nachhaltige Wirkung: Fast alle Karten wurden bei der Polizei abgegeben und kosteten ihn und seine Frau schließlich das Leben. Sandra Strunz und die Dramaturgin Viola Hasselberg haben Hans Falladas letzten Roman für die Bühne bearbeitet und lassen keinen Zweifel daran, dass es um erzählte Figuren geht. Aber es gelingt ihnen eindrucksvoll, in den kurzen, schlaglichtartigen Szenen zu zeigen, wie der Schrecken in die gesprochene Sprache eindringt und sie nach und nach beherrscht. Während Fallada in seinem 1947 kurz nach seinem Tod erschienenen, umfangreichen Roman beklemmend nüchtern berichtet, erscheinen hier zum Teil schrill überzeichnete Typen.
Das Ehepaar Quangel hat reale Vorbilder. Johannes R. Becher, damals Präsident des neu gegründeten „Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ und später erster DDR-Kulturminister, hatte Fallada einen Teil der Prozessakten des Berliner Arbeiterehepaars Otto und Elise Hampel als möglichen Stoff vorgelegt. Sie hatten wie die Quangels Postkarten gegen Hitler ausgelegt, wurden denunziert, verhaftet und 1943 wegen Hochverrats hingerichtet. Anders als die fiktiven Romanhelden gingen sie jedoch nicht angstlos in den Tod, sondern versuchten vor Gericht, durch gegenseitige Beschuldigungen ihr Leben zu retten.
Für die Inszenierung spielt die Publikationsgeschichte des Romans, der in englischer Übersetzung 2009 vor allem in den USA ein Bestseller wurde und 2011 erstmals ungekürzt auf Deutsch erschien, weiter keine Rolle. Auch der seltsam beschönigende Romanschluss kommt nicht vor. Stattdessen singt Karsten Süßmilch unter Tränen und Schluchzern im Glitzerkleid das Lied vom kleinen Stückchen Glück.
Er und sein Bruder Rainer, der auch den kleinen Gauner Enno Kluge verkörpert, liefern live den abgründigen Sound zum Geschehen. Strunz arbeitet regelmäßig mit dem exzellenten ­Musiker­duo zusammen, auch schon bei ihren höchst erfolgreichen Bonner Inszenierungen von Hiob nach Joseph Roth und Buddenbrooks nach Thomas Mann.
Alois Reinhardt spielt die alte jüdische Witwe Rosenthal, die sich nach der Plünderung ihre Wohnung durch brutale Nazirüpel das Leben nimmt, und sorgt mit bis zur Unverständlichkeit verzerrter Stimme für einen bizarren Höhepunkt der Aufführung. Sein SS-Obergruppenführer Prall wirkt mit blanker Brust und schwarzem Leder-Outfit wie ein Raubtier, das seine Opfer lustvoll umtänzelt, bis es zuschlägt. Schläge und Folter werden nicht konkret bebildert, sondern durch Klänge illus­triert: Zwei gegeneinander geschlagene Becken lassen Otto Quangel zu Boden gehen. Theaterblutkapseln hinterlassen ihre Spuren auf Hemden und Wänden.
Fast alle spielen mehrere Rollen. Johanna Falckner ist Trudel, die mit dem Quangel-Sohn verlobt war und sich im Gefängnis aus dem Fenster stürzt, und die tapfere Postbotin Eva Kluge. Wilhelm Eilers gibt neben dem dauerberauschten Nazi-Proll Persicke den Kommissar Escherich, der zu spät begreift, dass er die einzigen Aufrechten dem Unrecht ausgeliefert hat. Er ist auch der hilfsbereite Kammergerichtsrat Fromm und der Dirigent Dr. Reichardt, der in der Haft seinem Zellengenossen Quangel erklärt, dass es um die Menschenwürde geht, nicht um den Erfolg einer einzelnen Aktion. Das ist letztlich das große, aktuelle Thema des Abends: Wie kann man unter einem totalitären Regime die humanen Werte bewahren?
Holger Kraft spielt u.a. den kleinkriminellen Denunzianten Emil Barkhausen und den braven Kommunis­ten Karl, der mit neuer Verantwortung für Frau und Kind den Widerstand in anderem Licht betrachtet. Daniel Gawlowski überzeugt u.a. als junger Untergrundkämpfer Grigoleit und als rabiater SS-Mann. Trotz einiger Längen, etwas zu viel Gezappel und Maskeraden zieht das vorzügliche Schauspiel-Ensemble das Publikum mit. Auch wenn die Regie eher auf raffinierte formale Effekte und psychologische Distanz setzt, berührt die Vorstellung emotional zutiefst. Das liegt insbesondere an den beiden Hauptfiguren, die am Ende getrennt in ihren transparenten Käfigen gefasst dem Tod entgegensehen. Matthias Breitenbach als Otto, der nie große Worte macht, aber seine persönliche Aufgabe exemplarisch erfüllt, und Silvana Krappatsch als unscheinbare, zum Schluss sehr zerbrechlich wirkende Anna, die politisch völlig naiv den Frieden herbeisehnt.
Niemand kann mehr als sein Leben wagen. Gewiss ein hoher Preis für die sieben antifaschistischen Postkarten, die möglicherweise ihr Ziel erreichten. Und wenn es keine war, blieb es dennoch nicht vergeblich. Der Besuch der Aufführung lohnt sich unbedingt. Gerade auch für jüngere Menschen, für die das alles bereits sehr ferne Vergangenheit ist. E.E.-K.

Spieldauer ca. 3 Stunden, inkl. Pause
Die nächsten Vorstellungen:
29.04. // 23.05. // 10.06. // 12.06. // 23.06.18

Dienstag, 15.01.2019

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