Massiver Kuss - Uraufführung in der Werkstatt - kultur 130 - November 216

Ein massiver Kuss
Foto: Thilo Beu
Ein massiver Kuss
Foto: Thilo Beu

Kopflastiges Kunststück



Diese junge Frau macht keine Kompromisse. Sie will kämpfen mit dem Stein. Mit dem Material, aus dem sie Skulpturen schaffen kann. Die historische Camille Claudel (1864 – 1943), hochbegabte Bildhauerin, war lange Zeit vergessen, bis man in den 1980er Jahren ihr Werk neu entdeckte und sie zu einer Ikone der unterdrückten weiblichen Kunst stilisierte. 1883 wurde Camille Schülerin des berühmten Künstlers Auguste Rodin (1840 – 1917) und wenig später seine Geliebte. Es beginnt ein kompliziertes Verhältnis, bei dem Kunst und Begehren verschmelzen. Nach zehn Jahren verlässt Camille Rodins Atelier, verwahrlost zunehmend, zerstört systematisch ihre Arbeiten und verbringt die letzten 30 Jahre ihres Lebens in psychiatrischen Anstalten.
Die Autorin Anja Hilling, 2005 von Theater Heute zur Nachwuchsdramatikerin des Jahres gekürt, lässt die beiden Figuren konsequent in der Gegenwart agieren. Ihr neues Stück Massiver Kuss ist also keine biografische Abhandlung, sondern eher eine Zustandsbeschreibung. Regisseurin Friederike Heller lässt die beiden Akteure immer wieder mit ihren Körpern Skulpturen nachstellen. Als ob sie in ihrem explosiven erotischen Spannungsverhältnis die schöpferische Kraft neu erfinden und modellieren müssten. Den Rhythmus ihrer Bewegungen und Schmerzen in eine ewigkeitstaugliche massive Form gießen oder schlagen.
Laura Sundermann ist „Sie“: Schön, eigenwillig, brennend vor Ehrgeiz und Leidenschaft. Trotzig und demütig, stolz und schüchtern gegenüber dem wesentlich älteren Mann, der ihrem unberechenbaren Geist ebenso verfällt wie ihrer kreativen Intelligenz. Bernd Braun spielt „Er“, hochfahrend, exzentrisch, erotisch unersättlich. Er taucht auch mal kurz mit Rodin-Vollbart auf oder verkriecht sich am Flügel seiner Lebensgefährtin Rose. Anaïs Durand-Mauptit liefert pianistische Kommentare zu dem Liebesduell des Paares, das sich immer tiefer in seine Dauerkrise verstrickt. Claude Debussy, mit dem Camille vermutlich eine kurze Affäre hatte, ließ sich ziemlich sicher von ihrer alle Schwerkraft negierenden Plastik La Valse inspirieren zu seinem gleichnamigen Klavierstück.
Der großartige Braun ganz in Schwarz (Kostüme: Sabine Kohlstedt) ist der eifersüchtige Patriarch, der seine Schülerin, Gehilfin und Konkurrentin benutzt, sie mit seinem zwischen Brutalität und verzweifelter Zärtlichkeit schwankenden Verlangen langsam in den Wahnsinn treibt. Gelegentlich mischen sich lässige Alltagssprache und hellsichtige Bonmots in den ansonsten arg kopflastigen Diskurs. Gegen Ende reißt Camille wütend den Vorhang an der Bühnen-Rückwand herunter (Bühnenbild „nach einer Idee von Ricarda Beilharz und Friederike Heller“). Sie wollte gesehen werden als eigenständige Künstlerin. Nicht nur als Modell und Mitarbeiterin eines Genies und Schwester des Dichters Paul Claudel. Einen Epilog zu ihrem längst aus der Unscheinbarkeit ans Licht geholten Lebens kann man finden in Ibsens 1900 uraufgeführtem letzten Drama Wenn wir Toten erwachen. In der Werkstatt wird ihre Leidenschaft vor allem durch zwei fabelhafte Darsteller belebt. E.E.-K.

Spieldauer ca. 90 Min., keine Pause
nächste TerminE: 5.11. ? 12.11. ? 19.11. ? 30.11. ? 9.12.16

Donnerstag, 19.01.2017

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