Drei Schwestern - Kammerspiele - kultur 126 - Mai 2016

Drei Schwestern
Foto: Thilo Beu
Drei Schwestern
Foto: Thilo Beu

Verloren zwischen Moskau und Bad Godesberg



Einen bunten Brummkreisel hat Irina zum Namenstag bekommen. Lange Zeit später wird sie selbstverloren auf dem Boden ho­cken und ein gutes Dutzend dieser Spielzeuge tanzen lassen, bis eins nach dem anderen umkippt. Eins der vielen schönen Bilder für die Ausweglosigkeit des Lebens der drei Schwestern, die es in eine russische Provinzstadt verschlagen hat, wo ihr mittlerweile verstorbener Vater als Brigadegeneral stationiert war. Ihr Sehnsuchtsziel ist Moskau. Bühnenbildner Sebastian Hannak lässt den gewölbeartigen Raum, der als Einheitsspielort dient, nach hinten suggestiv in einen unendlichen Tunnel münden, eine der prunkvollen Moskauer Metrostationen.
Diese ‚Paläste fürs Volk‘ gab es natürlich noch nicht, als Anton Tschechows Drama Drei Schwestern 1901 am Moskauer Künstler­theater uraufgeführt wurde. Regisseur ­Martin Nimz präsentiert seine Figuren als Grenzgänger zwischen verklärter Vergangenheit und erträumter Zukunft. Überrollt von einer Gegenwart, der sie nicht gewachsen sind. Den deklassierten Kleinadel, seine arrogante Melancholie und groteske Weltfremdheit garniert er (in der sprachlich entschlack­ten deutschen Übersetzung von Thomas Brasch) mit Bad Godesberg-Klischees. Per Video (Thorsten Hallscheidt) sind wir gleich zu Beginn im Drohnen-Anflug auf die Kammerspiele und folgen am Ende anonymen Reisenden über die Lochblech-Treppen der Bahnhofsbaustelle. Gelegentlich kommt die Jukebox am Bühnenrand mit alten Pop-Songs zum Einsatz. Einen gespenstischen Maskenball mit den Bonner Politgrößen der Vergangenheit (Adenauer, Erhard, Brandt etc.) ­gibt’s auch. Zu Twist und Cha-Cha-Cha kommandiert die alte Kinderfrau Anfissa (Barbara Teuber als treues Faktotum), bevor sie nach der Pause händeringend die hereinströmenden Flüchtlinge abwehrt: „Wer soll denn das bezahlen?“. Die Statisterie kommt zuvor noch beim Rheinhochwasser zum Film-Einsatz, was die Inszenierung quälend in die Länge zieht.
Bei Tschechow ist’s ein Brand, der die Stadt zerstört, während die Villenbewohner am Rand ihre seelischen Wunden pflegen. Allen Figuren dieser Müdigkeits-Gesellschaft gönnt die Regie indes wunderbar präzise Konturen. Lydia Stäublis Olga verbindet eiserne Disziplin und unterdrückte Gefühle mit scharfer Sensibilität für die Nöte ihrer Geschwister. Die famose Mareike Hein gibt ihrer Mascha eine trotzige Sinnlichkeit. Verzweifelt klammert sie sich an den unglücklich verheirateten Offizier Werschinin (mit kühler Eleganz: Benjamin Grüter), der die Affäre mit ihr ungerührt beendet, als sein Regiment versetzt wird. Maschas depressiver Oberlehrer-Gatte Kulygin (als von ihrer Lebensgier überforderter Schwächling: Sören Wunderlich) läuft mit seinen Trostversuchen ins Leere. Maike Jüttendonk verkörpert hinreißend die junge Irina, die eine echte Lebensaufgabe sucht und diese weder auf dem Telegrafenamt noch als Lehrerin findet. Ernsthaft arbeiten will sie. Von körperlicher Arbeit in der Ziegelei schwärmt Baron Tusenbach (als idealistischer Schwadroneur: Benjamin Berger), den Irina ebenso wenig lieben kann wie den jungen Schnösel Soljony (Manuel Zschunke), der am Abend vor der geplanten Hochzeit Irinas mit Tusenbach seinen Nebenbuhler im Duell erschießt. Der versoffene alte Zyniker Tschebutykin (Wolfgang Rüter) darf die bittere Wahrheit überbringen.
Längst ein hoffnungsloser Fall ist Andrej, Bruder der drei Schwestern, der einst eine Professur in Moskau anstrebte und als subalterner Angestellter der Landesverwaltung aus Langeweile das Familienvermögen am Spieltisch verzockt. Daniel Breitfelder spielt genial diese haltlose, tränenselig in Selbstmitleid versinkende Gestalt als tragikomischen Verlierer, der mit seiner peinlichen Stotter-Arie alle schwesterlichen Nerven blanklegt. Dagegen triumphiert seine Gattin Natalja, deren Macht mit jeder Mutterschaft wächst. Die großartige Johanna Falckner spielt kein kleinbürgerliches Land-Ei, sondern eine attraktive Frau, die energisch ihren Aufstieg plant. Modisch geschmackvoll gekleidet (Kostüme: Jutta Kreischer) stöckelt sie durch die Zimmer, aus denen sie nach und nach gnadenlos die anderen vertreibt. Ein berechnendes Biest, das die zur Schuldirektorin avancierte Olga demütigt, das nutzlose Personal rabiat rauswirft und die neue kapitalistische Gesellschaft behauptet, während sich im Hintergrund schon die proletarische Revolution ankündigt.
Oder die Arabellion mit Ruinenfeldern, Bombenterror, Bootsflüchtlingen – das volle Gegenwartskrisenproramm. Die drei Schwes­tern, die hilflos schwermütig zusammengekuschelt am Bühnenrand der unglücklichen Zukunft entgegensahen, müssen also noch ein paar aktuelle Katastrophen-Sendungen ertragen, bevor sie ihren Weltschmerz-Epilog herausschreien dürfen: „Nur noch eine kleine Weile, und wir werden erfahren, warum wir leben und warum wir leiden.“ Ihre auf der Bühne erzählte Geschichte umfasst ungefähr dreieinhalb Jahre, hier mühsame dreieinhalb Stunden. Oft treten die Darsteller monologisierend an die Rampe, weil sie sich gegenseitig nicht viel zu sagen haben.
In den Kammerspielen verschwindet die Traumstadt Moskau derweil im flachen Bodennebel eines Stadttheaters, das sich ohne Grund selbst provinzialisiert. Das exzellente Bonner Schauspiel-Ensemble hat jedoch Besseres verdient als platt verulkte Bad Godesberg-Nostalgie, Salafisten-Hochburg-Fan­tasien und abgedroschenen Brüllspaß inklusive Selfi-Kamera. Sie können mehr und beweisen das in vielen beeindruckenden Momentaufnahmen aus dem ungelebten Dasein. Freundlicher Premierenbeifall.

Eine strapaziöse, aber durch hervorragende Schauspielleistungen gut auszuhaltende Aufführung. E.E.-K.

Spieldauer ca. 3½ Std. inkl. einer Pause
die Weiteren Termine:
8.05. // 14.05. // 29.05. // 4.06. //
30.06. // 8.07.16

Donnerstag, 25.08.2016

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