Anatevka - Oper Bonn - kultur 125 - April 2016

Anatevka
Foto: Theater Bonn
Anatevka
Foto: Theater Bonn

Pures Theaterglück

Mörbisch höchst erfolgreich inszenierte, hat das Wagnis riskiert und damit nun das Bonner Publikum begeistert.
Die Ausstattung von Karin Fritz mit einer riesigen hölzernen Bühne und historischen Kos­tümen aus der Zeit um 1905 bleibt kitschfrei. Das orthodoxe jüdische Leben – die Männer tragen Hüte und weiße Gebetstücher – im ukrainischen Schtetl Anatevka wird nicht romantisiert. Denn die Idylle ist brüchig und von politischer Gewalt bedroht. Im Hintergrund schwelt Feuer, nachdem russische Soldaten bei einem Pogrom auf Befehl des Zaren die Wirtshausbänke umgeworfen haben, an denen eben noch eine große Hochzeit nach altem jüdischem Brauch gefeiert wurde. Die Dorfgemeinschaft hält gegen alle Widrigkeiten zusammen und setzt auf Tradition. Den entsprechenden Song präsentiert eindrucksvoll der ebenso spielfreudige wie musikalisch überzeugende Bonner Opernchor (perfekt einstudiert von seinem neuen Leiter Marco Medved), der anfangs aus dem Zuschauerraum auftritt. Glänzend verstärkt wird er vom Kinder- und Jugendchor unter der Leitung von Ekaterina Klewitz. Zu dessen vielversprechenden Talenten gehören Hannah Schiller und Lola Eulitz, die die jüngsten Töchter des armen Milchmanns Tevje spielen.
Für die zentrale Rolle dieses neuen Hiob eine bessere Besetzung zu finden als den gebürtigen Wiener Gerhard Ernst, ist kaum denkbar. Er ist seit Jahrzehnten mit dem Tevje verwachsen, den er 1979 mit 35 Jahren am Theater Krefeld zum ersten Mal verkörperte. Er ist ein großartiger Sänger-Schauspieler, der nicht nur das bekannteste Lied des Musicals – Wenn ich einmal reich wär – mit emotionalem Schmelz versieht, sondern auch die spitzfindigen Dialoge mit sich selbst und mit Gott facettenreich gestaltet. Wer angesichts bitterster Not und Bedrängnis noch so viel Humor zeigt, kann nicht untergehen. Obwohl das lahme Pferd wirklich keine gute Idee des himmlischen Herrn war, weshalb Tevje seinen Milchkarren nun selbst durchs Dorf ziehen muss.
Mit der seit vielen Jahren zum Bonner Ensemble gehörenden Mezzosopranistin Anjara I. Bartz ist die Rolle der Golde stimmlich geradezu opulent besetzt. Das zu Herzen gehende Duett des alten Paars Golde/Tevje „Ist es Liebe?“ wird man kaum je so überzeugend erleben wie hier. Die Eltern haben’s ansonsten wirklich nicht leicht mit ihren drei heiratsfähigen Töchtern. Tzeitel, die älteste (Sarah Laminger), verweigert die Hand des wohlhabenden Metzgers Lazar Wolf (großartig: der beliebte Bass Martin Tzonev) und heiratet den mittellosen Schneider Mottel Kamzoil – bei Christian Georgs lyrischem Tenor vollkommen begreiflich. Um das seiner Golde klar zu machen, muss Tevje jedoch die komplette Bühnenmaschinerie in Gang setzen, bis Oma Tzeitel (Barbara Teuber) ganz in Weiß durch die Träume geistert und bei der Erscheinung von Lazars verstorbener Gattin (Daniela Päch) flugs das ganze Bett hochfährt.
Solch fantastische Effekte kann er sich sparen bei der zweitgeborenen Tochter Hodel (Maria Ladurner), die ihr Herz dem Revolutionär Perchik (Dennis Laubernthal) schenkt und ihm in die Verbannung nach Sibirien folgt. Dass sein geliebtes Nesthäkchen Chava (Lisenka Kirkcaldy) dem ungläubigen Russen Fedja (Jeremias Koschorz) ohne väterliche Zustimmung das Ja-Wort gibt, ist indes zu viel für Tevjes patriarchalische jüdische Seele. Unerschütterlich ihr Geschäft betreibt hingegen die alte Heiratsvermittlerin Jente (hervorragend: Maria Mallé). In zahlreichen kleineren Rollen liefert das große Ensemble wunderbar komische und berührende Charakterzeichnungen. Gesungen und gesprochen wird exzellent textverständlich auf Deutsch.
Die Choreografie von Vladimir Snizek rutscht selbst beim populären „Flaschentanz“ nicht ins platt Folkloristische. Bei seiner ersten Premiere in der Bonner Oper sorgt der neue Erste Kapellmeister Stephan Zilias am Pult des Beethovenorchesters für musikalischen Drive, ohne die elegischen Töne zu vernachlässigen. Zugegeben: die Musik des Komponisten Jerry Bock ist ein unwiderstehlicher Soundtrack, aber im Vordergrund steht die theatrale Qualität des 1964 in New York uraufgeführten Musical-Klassikers. Das fiktive Dorf Anatevka mit all seinen merkwürdig liebenswerten Gestalten verschwand brutal von der Landkarte. Am Ende der auf einem Roman des jiddischen Dichters Scholem Alejchem basierenden Geschichte müssen alle jüdischen Bewohner ihre Heimat verlassen. Einsam zurück bleibt der Fiedler mit seiner roten Mütze, der anfangs oben in der Intendantenloge seine Geige erklingen ließ. Fiddler on the Roof lautet der englische Originaltitel des Musicals, inspiriert von einem mehrfach in den Bildern von Marc Chagall auftauchenden Motiv. Eine poetische Erscheinung, ebenso unsterblich wie Anatevka.
Die aufwändige Inszenierung gibt dem unsentimentalen Humor viel Raum, verschweigt die menschliche Tragödie hinter der heiter harmlosen Fassade jedoch nicht. Bei der ausverkauften Premiere wurde das ganze Team dafür mit Ovationen belohnt. Mehrere Vorstellungen (trotz der Länge eignet sich die Aufführung auch für Familien) sind bereits ausgebucht. E.E.-K.

Spieldauer ca. 3¼ Std. inkl. einer Pause
die nächsten Termine:
13.04. // 30.04. // 15.05. // 22.05. // 3.06. // 15.06. // 19.06. // 22.06.16

Donnerstag, 07.07.2016

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