Die Wildente - Kammerspiele - kultur 105 - April 2014

Lebensnotwendige Illusion

Lebensnotwendige Illusion


In ihren Gesellschaftsanzügen beim Empfang des Direktors Werle sehen sie fast wie Zwillinge aus: Gregers Werle, zukünftiger Erbe eines beachtlichen Vermögens und Hjalmar Ekdal, der sich für den Abend einen Smoking geliehen hat und als Photograph ein bescheidenes Auskommen hat. Mit Unterstützung des alten Werle, der sich um die Familie seines ehemaligen Geschäftspartners kümmert. Der alte Ekdal ist finanziell und geis­tig ruiniert nach einer windigen Transaktion, die ihm eine Gefängnisstrafe einbrachte, während der alte Werle mit weißer Weste davonkam. Ein weißes Jackett trägt der Großhändler Werle (brillant: Bernd Braun) auch bei seinem kurzen Auftritt in Ibsens Die Wildente.
Um den mächtigen Übervater kreist indes das Drama, mit dem der Regisseur Martin Nimz in den Kammerspielen seinen Einstand gibt. Vieles spricht dafür, dass er der leibliche Vater der kleinen Hedvig ist und der Ekdal-Familie nicht grundlos ökonomisch unter die Arme greift. Hedvigs Sehschwäche könnte das Erbe der einstigen Beziehung von Hjalmars Gattin Gina mit dem Patriarchen sein. Gregers‘ blindwütiges Verlangen nach Aufklärung stiftet jedoch mehr Unheil als Wahrheit. Denn diese ist Menschen wie Hjalmar eben nicht zumutbar. Seine Existenz ist nur erträglich mit den lebensnotwendigen Illusionen. Sören Wunderlich spielt diesen Phantasten fabelhaft genau: Ein Tagträumer, der mit seiner ‚großen Erfindung‘ die photographische Abbildung zur Kunst erheben und die Familienehre wieder herstellen möchte. Ein geradezu gespenstisch auf das romantische Bild von sich selbst fixierter Anti-Held, der der Wirklichkeit außer Selbstmitleid nichts entgegenzusetzen hat und sich von seiner Frau noch ein gutes Frühstück servieren lässt, bevor er seine Sachen packt. Was er natürlich nicht schafft, obwohl ihm Gina jeden Ausweg bahnt. Lydia Stäubli ist die tapfere Frau an seiner Seite, die standhaft den Überblick behält, Haushalt und Geschäft managt und alle Emotionen tiefkühlt. Während Benjamin Grüter als einsamer Wahrheitsfanatiker Gregers rück­sichtslos rumzündelt am leicht entflammbaren Glücksmaterial. In feuerroter Militäruniform (Kostüme: Jutta Kreischer) versucht der alte Ekdal derweil sein Jagdglück auf dem Dachboden, erschießt zahme Kaninchen und genießt diese ‚freie Natur‘ als Gegenwelt zu seinem ärmlichen Schreiber-Job. Wolfgang Rüter gibt den durchgeknallten Opa als urkomisches Fossil. Sehr nüchtern erobert Frau Sørby (das ehemalige Ensemblemitglied Nina Tomczak macht auch in einer Nebenrolle große Wiedersehens-Freude) den echten Firmen-Chef.
Das für viele Überraschungen taugliche Bühnenbild von Manuel Kolip (für das Licht gehört Sirko Lamprecht ein Sonderlob!) lässt keinen Zweifel daran: Es ist Theater, was sie sich da als Lebensersatz künstlich zurechtgebastelt haben. Ein kleines Theaterwunder ist dagegen Maya Haddad als Hedvig. Ein erns­tes autistisches Kind, das sich auf dem iPad live eine eigene unheile Welt zeichnet und sprachlos die Zerstörungen kommentiert. Manchmal klammert sie sich verzweifelt an die Menschen, die sie begreift, aber nicht versteht. Liebevoll begießt sie einen künstlichen Baum, bis die ganze Bühne unter Wasser steht. Da platschen sie dann herum in der trüben Wahrheitsbrühe, während das Mädchen in voller Hellsicht sich selbst opfert. Nicht der über alles geliebten, flügellahmen Wildente gilt ihr finaler Herzschuss, sondern dem herzlos blinden Getriebe.
Die Sprache in der Übersetzung des Skandinavisten und erfahrenen Dramaturgen Heiner Gimmler ist heutig und schlackenlos lakonisch. Dass man nicht jedes Wort des regelmäßig besoffenen und deshalb nuschelnden Arztes Relling (Özgür Karadeniz) akus­tisch versteht, stört dabei kaum. Dass „Ideale“ nur ein Euphemismus für „Lügen“ sind, wussten wir sowieso. Dass Ibsens irritierende Seelen­erforschungen eigentlich bitterböse Komödien sind, wird hier überdeutlich. Gregers und Hjalmar bleiben infantil. Nur das stumme Kind wird erwachsen, bevor es sich vom Leben verabschiedet. Das schmerzt wirklich und lohnt den langen Weg über manche Plattitüden aus der Regie-Kasperkis­te. E.E.-K.

Spieldauer ca.3 Stunden
inkl. einer Pause
die nächsten Termine: 6.04. // 11.04. // 17.04. // 27.04. // 3.05. // 30.05.14

Mittwoch, 17.09.2014

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Letzte Aktualisierung: 05.10.2024 21:01 Uhr     © 2024 Theatergemeinde BONN | Bonner Talweg 10 | 53113 Bonn