Michael Kohlhaas - kultur 87 - Juni 2012

Michael Kohlhaas von Heinrich von Kleist in den Kammerspielen: Faszinierendes Kunststück

Originell und völlig unprätentiös beschreibt die Schriftstellerin Felicitas Hoppe (*1960) ihre Kleist-Lektüre in dem Essay „Lösung: Liebe“, den das Theater Bonn als Programmheft-Beilage zu Michael Kohlhaas veröffentlichte. Wenige Tage nach der Premiere erschien die Nachricht, dass Hoppe dieses Jahr den Büchner-Preis erhält, die wichtigste Auszeichnung der deutschsprachigen Literatur. Die Koinzidenz ist ebenso zufällig wie bemerkenswert. Vieles von Büchners Wut und Witz nimmt Kleists 1810 erschienene Novelle vorweg und greift voraus ins 20.Jahrhundert zu Kafkas absurder Parabel Vor dem Gesetz, in der das menschliche Recht zum verschlossenen System wird wie bei Kohlhaas’ Kampf gegen die mächtigen Hüter der Ordnung.
An vom Schnürboden hängenden Seilen müssen sich alle jedes Mal festschnallen, wenn sie die riesige, metallisch grau glänzende Walze betreten. Sie sind Figuren im unerbittlich auf der Stelle kreisenden Räderwerk der Geschichte, das sie zu einem stehenden Sturmlauf zwingt. Der Pferdehändler Michael Kohlhaas, „einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“, verliert den Boden unter den Füßen, als ihm vom Junker von Tronka schweres Unrecht geschieht und seine bürgerlichen Rechte in den Staub getreten werden.
Der Regisseur Ulrich Rasche, bundesweit bekannt für seine eigenwilligen Chorprojekte, inszeniert Heinrich von Kleists große Novelle Michael Kohlhaas in den Kammerspielen als szenisches Oratorium. Es ist keine der auf deutschen Bühnen derzeit grassierenden Dramatisierungen epischer Stoffe, sondern ein visuelles, akustisches und sprachliches Gesamtkunstwerk mit ungeheurer Sogkraft. Die von Rasche entworfene Bühnenskulptur aus vertikal gegeneinander versetzten ovalen Scheiben hebt und senkt die Akteure, ist Projektionsfläche für die von Kohlhaas entfachten Flammen der Rache und den kalten Rauch der Revolte. Vor allem nimmt dieses technische Wunderwerk jedoch ebenso wie das gesamte Ensemble ungemein präzis Kleists dramatischen Sprachrhythmus mit seinen raffinierten narrativen Retardierungen und Beschleunigungen auf.
Gegen das Dauerrollen des Untergrundes setzen die fabelhaft genau geführten Schauspieler und Sänger ein statisches Schreiten und ein bewegendes Stimmkonzert. Jürgen Lehmann als Sprech-Chorleiter kommandiert und dirigiert die Schauspieler, die Kleists (um einige Motivstränge verkürzten) Text als virtuose Wortmusik zelebrieren und damit die Aufmerksamkeit auf die vertrackte Logik des Geschehens lenken. Vordergründig illustriert wird dabei nichts: kein historisches Dekor, kein Schlachtengetümmel, kein Theaterblut. Sondern pures Theater, bei dem aus einem Hauch ins Mikrophon ein Sturm entsteht und aus raschelndem Papier ein knisterndes Feuer. Der Anlass für die unerhörte Begebenheit wird mit hochgespannter Ruhe exponiert, bevor die Gewalt unaufhaltsam ihren Lauf nimmt.
Alle weiß gekleideten Schauspieler (Kostüme: Sara Schwartz) sind Teil eines mächtigen Erzählstroms, aus dem sich individuelle Stimmen herauslösen und einzelne Figuren entstehen. Sie übernehmen zugewiesene Rollen und wandern sachte rückwärts aus dem Spiel, wenn ihr Part zu Ende ist.
Ein paar Passagen sind zäh im Strudel der Ereignisse. Dennoch gibt es viele emotionale Momente, die die streng formalisierte Ästhetik durchbrechen. Kohlhaas’ Konflikt zwischen Recht und Gesetz verkörpert Nico Link bravourös mit verhaltener Wut. Mareile Blendl als Kohlhaas’ tapfere Gattin Lisbeth stirbt aufrecht mit solch zarter Verletzlichkeit, dass die Maschinerie einen Moment lang anhalten muss. Hendrik Richter berührt als grausam misshandelter Knecht Herse. Die hervorragende Kornelia Lüdorff, Philine Bührer, Dominik Fornezzi und Roman Hermetsberger sorgen in wechselnden Rollen für den Fortgang der Geschichte. In deren Sprachwucht mischt sich zunehmend himmlischer Gesang (Musik: Johannes Winde), was die Aufführung zu einem betörenden Klangereignis macht. Julia Birke, Ines Madeira, Guillaume Francois und Arturas Mikmaitis in schwarzen Kostümen laufen wie Fremdkörper aus einer fernen Welt mit auf der Walze, kommentieren mit „Requiem“ und „Dies irae“ Trauer und Verzweiflung und lassen barocken Stimmglanz über der zerrissenen Harmonie leuchten. Eine aus den Fugen geratene, unheile Welt fügt sich durch die heilig-heilende Schönheit der Musik.
Allein Falilou Seck als Luther steht außerhalb des Umwälzungsapparats, wenn er den Aufrührer Kohlhaas zur Anerkennung höherer Gesetze mahnt. Der verlässt – zum ersten Mal vorwärts – seinen Standpunkt und verfängt sich damit im gefährlichen Innenleben der Maschine. Sein Recht wird er bekommen, sein Todesurteil nach kurzem Zögern akzeptieren. Am Ende hängen alle wie Puppen erschöpft an ihren Fäden. Und erinnern an Kleists Dialektik des Marionettentheaters, in dem die ursprüngliche Grazie entweder gar kein Bewusstsein oder ein unendliches verlangt.
Ein gedanklich hoch konzentriertes, sinnlich brillantes Kunststück, das zu Recht mit stürmischem Premierenbeifall belohnt wurde und das Potenzial hat, nicht nur das Bonner Publikum in die Kammerspiele zu locken, sondern auch überregional ein Theater-Hit zu werden. E.E.-K.


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Spieldauer ca. 2 ¼ Stunden, keine Pause
Im Programm bis ???
Die nächsten Termine:
02.06.12 // 03.06.12 // 08.06.12 //
09.06.12 // 14.06.12 // 15.06.12 //
01.07.12 // 03.07.12 // 04.07.12

Montag, 29.10.2012

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