Holliger, Heinz (*1939)

aus kultur Nr. 64 - 3/2010

„Meine ganze Beziehung zur Musik ist so, dass ich immer wieder probiere, an die Grenze zu kommen.“
Der Schweizer Komponist, der vielen vor allem auch als Oboist oder Dirigent bekannt ist, wurde im Kanton Bern in Langenthal geboren. Während seiner Gymnasialzeit besuchte er bereits das Berner Konservatorium, wo er Oboe bei Emile Cassagnaud, Klavier bei Sava Savoff und Komposition bei Sándor Veress studierte. Nach der Matura setzte er seine Studien für ein Jahr am Consérvatoire national supérieur in Paris bei Yvonne Lefébure (Klavier) und Pierre Pierlot (Oboe) fort, bevor er von 1961-63 die Kompositionskurse von Pierre Boulez an der Baseler Musikakademie besuchte.
Gleichzeitig war Holliger von 1959-63 erster Oboist im Symphonieorchester der Basler Orchester-Gesellschaft. Als Solist begann er international Konzerte zu geben und erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Holliger gehört zu den führenden Oboisten unserer Zeit. Sein Repertoire umfasst sowohl Kompositionen des 18. und 19. Jahrhunderts als auch zeitgenössische Werke. Viele Komponisten schrieben Stücke für ihn. Darüber hinaus forschte Holliger in Archiven und Bibliotheken nach Werken für sein Instrument. Die Wiederentdeckung vergessener Kompositionen des 18. Jahrhunderts, wie z. B. von Jan Dismas Zelenka und Ludwig August Lebrun, sind sein Verdienst. Für die Oboe erweiterte Holliger die Spieltechniken u. a. um Mehrklänge, Doppelflageoletts, Flatterzungen und Doppeltriller.
Seine Frau, Ursula Holliger, ist Harfenistin und gehört ebenfalls zu den führenden Vertretern ihres Instruments. Für das Paar schrieben H. W. Henze, G. Ligeti und W. Lutoslawski jeweils ein Doppelkonzert. Beide sind auch als Lehrer tätig; Holliger war seit den 60er Jahren bis 2003 Professor an der Hochschule für Musik in Freiburg i. Br., seine Frau ist Professorin an der Musikakademie in Basel.
Als Dirigent war Holliger zuerst von 1977-87 in Paul Sachers Konzert­reihe mit dem Baseler Kammerorchester tätig, anschließend rief er die Konzertreihe „Basler Musik-Forum“ ins Leben und dirigiert bis heute weltweit führende Orchester und Ensemles.
Seinen ersten Erfolg als Komponist hatte Holliger mit dem Liederzyklus Glühende Rätsel für Altstimme und zehn Instrumentalisten auf Gedichte von Nelly Sachs, der 1964 von Pierre Boulez bei den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführt wurde. Innerhalb seines kompositorischen Schaffens, das zahlreiche Vokalwerke und Kammermusik, aber auch Orchester- und Bühnenwerke umfasst, lässt sich immer wieder eine Vorliebe für Grenzerfahrungen beobachten. Damit sind sowohl Grenzen des Klangs, als auch physische Grenzen des Interpreten sowie psychische Grenzbereiche gemeint, die in den gewählten Texten zum Ausdruck kommen.
In Werken wie Pneuma oder Cardiophonie werden Extreme der Klangproduktion und -reduktion unter Einbeziehung von Geräuschen und phonetischen Elementen ausgelotet. Pneuma wirkt wie ein überdimensionierter orchestraler Atem-Mechanismus, der schließlich wie unter Überdruck platzt. Cardiophonie thematisiert die physische und psychische Überforderung des Solisten.
Holliger verwendet gerne Texte von Künstlern, die sich zwischen Normalität und Wahnsinn, zwischen Leben und Tod bewegen. So ist das mit dem Pseudonym Scardanelli signierte Tagebuch des Dichters F. Hölderlin, der sich mit 37 Jahren von der Welt zurückzog und den Rest seines Lebens im Turm von Tübingen verbrachte, die Grundlage für den zwischen 1975 und 1991 entstandenen 23-teiligen Scardanelli-Zyklus. Im Zentrum dieses Zyklus’ steht das Soloflötenstück (t)air(e) - eine weitere Reminiszenz an Hölderlin, der selbst ein ausgezeichneter Flötist war.
Durch die Auseinandersetzung mit dem Leben und Schaffen Robert Walsers entstanden Werke wie der zwölfteilige Liederzyklus Beiseit und die Oper Schneewittchen. In dem Zyklus Beiseit verdeutlicht Holliger das Abgründige, Brüchige und vor allem das Gefühl der Leere in den verwendeten Texten. Die Oper Schneewittchen gründet auf dem gleichnamigen Versdramolett von Walser. Dessen „Fortschreibung des Märchens ist geprägt von hartnäckigem Erinnerungsverlust: Die Figuren können sich des Märchens kaum mehr entsinnen und verwirren alle Beziehungen in kunstfertigster Plauderei, als einzige „Lösung“ erscheint ihnen schließlich die Verabredung zur Amnesie.“ (Michael Kunkel) Holliger faszinierte an der Vorlage die Vieldeutigkeit von Walsers Sprachspiel und die damit verbundene Fülle verschiedener Lesarten. „Dort fängt eben auch die Musik an, dort hat sie ihre Daseinsberechtigung: nicht nur die Worte zu transportieren (...), sondern alles Klang werden zu lassen, was als Subtext oder zwischen diesen Worten an Bezügen, an geheimen Funken vorhanden ist“ (Holliger).
Texte von Samuel Beckett verwendete der Komponist für die Kurzoper Come and Go, das Monodrama Not I (s.u.) und die Kammeroper What Where. Die Vertonungen der Beckettschen Vorlagen bezeichnete Holliger selbst als „Verstummungen“.
Mit der Folklore seines Landes setzte er sich in Kompositionen wie Alb-Chehr. Geischter- und Älplermüsig fer d’Oberwalliser Spillit und dem Liederzyklus Puneigä nach Gedichten von Anna Maria Bacher auf Pumatter Titsch auseinander. „Das Pumatter Titsch ist eine Sprache, die sich seit dem 16. Jahrhundert kaum verändert hat (...) Die Härte und die gemeißelte Kraft der Worte hat mich sehr gepackt.“
Neben seinem „Hauptwerk“ schrieb der Komponist auch eine große Zahl von Gelegenheitsmusiken für bestimmte Personen oder Anlässe.
Für sein kompositorisches Œuvre erhielt Holliger zahlreiche Auszeichnungen. Anlässlich der Uraufführung der Oper Schneewittchen wurde ihm 1998 der Ehrendoktortitel der Universität Zürich verliehen. Die ECM-Einspielung der Oper erhielt 2002 den Grammy Award. E.H.

Hörtipps:
- Schneewittchen, Banse, Kallisch, Davislim, Widmer, Gröschel, Orchester der Oper Zürich, Heinz Holliger, ECM.
- Scardanelli-Zyklus (1975-1991), Aurèle Nicolet, London Voices, Heinz Holliger, ECM.
- Beiseit / Alb Chehr, James, Bumann, et al., ECM.

Samstag, 05.02.2011

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