Das letzte Aufgebot - Junges Theater Bonn - kultur 158 - Juli 2019

Das letzte Aufgebot
Foto: Thomas Kölsch
Das letzte Aufgebot
Foto: Thomas Kölsch

Beklemmendes Drama um Propaganda, Schuld und Lügen

Es ist eine psychologisch ungemein genaue, ernsthafte Auseinandersetzung mit einer Situation, deren Zeitzeugen nach und nach verschwinden. Waren wir Verbrecher oder Opfer von Verbrechern? Diese ungelöste Frage steht am Ende des Stückes, mit dem das Junge Theater sich auf eine Forschungsreise in die deutsche Vergangenheit begeben hat. Es geht um den sogenannten „Volkssturm“, zu dem im Herbst 1944 das Hitler-­Regime alle „waffenfähigen Männer von 16 bis 60 Jahren“ verpflichtete, um den „Heimatboden des Deutschen Reiches“ zu verteidigen. ‚Freiwillig‘ melden konnten sich auch Fünfzehnjährige. Völlig unzureichend ausgerüstet zogen Tausende von Jugendlichen, die ihr ganzes kurzes Leben lang von der Naziherrschaft sozialisiert waren, in den sicheren Tod. Das letzte Aufgebot ist ein beklemmendes Drama um Propaganda, Fanatismus und Gruppenzwänge. Knapp 75 Jahre nach den ­Gescheh­nissen ist es, angesichts des wieder zunehmenden Nationalismus und Antisemitismus, leider brandaktuell.
Auf Anregung von Oscar Kafsack (*2003, erfahrenes Mitglied des JTB-Nachwuchs-Ensembles und perfekter Darsteller der zentralen Figur des Jakob) hat JTB-Intendant Moritz Seibert das Stück zusammen mit den Jugendlichen Fabiola Mon de la Fuente (Marie) und Karl Junker (Franz) verfasst. Seiberts Inszenierung (Regie und Bühne) ist kein Dokumentar-Theater, setzt aber auf Authentizität (historische Kostüme: Katharina Kastner), psychologische Genauigkeit und große Emotionen. Der ausdrückliche Brückenschlag zur Gegenwart ist da gar nicht nötig, sondern stellt sich ohne didaktisch erhobenen Zeigefinger von selbst her.
Der Krieg ist in dem kleinen Eifeldorf (markiert durch dünne Baumstämme, einen erhöhten Kartoffelacker und variable Holzkonstruktionen) noch nicht angekommen, nur die daraus erwachsene Not. Die Männer sind irgendwo auf den Schlachtfeldern, alle Arbeitskräfte werden gebraucht für die Landwirtschaft. Klar: Es sind ganz normale Jungs, die da schuften und gern mal was echt Großes erleben möchten. Pubertär neugierig auf den ersten Sex, ab und zu besoffen von billigem Schnaps und anfällig für vaterländische Parolen. Franz (hervorragend: Karl Junker) zum Beispiel, Sohn des mächtigen Gauleiters Hans Gause (erschreckend selbstsüchtig: Nima Conradt), der bei der Bürgermeistertochter Gerti (Tamina Friedrich) kein Glück hat und auch als schwer verwundeter Heimkehrer nicht begreifen will, dass er bitter getäuscht wurde. Oder der sensible Walter (Tristan ­Witzel), der kein Blut sehen kann und beim ersten Angriff der „Feinde“ zusammenbricht. Einen Vorgeschmack auf die brutale Realität im „Kampfausbildungslager“ liefern die schnarrenden Kommandos der SS-Männer (Lukas Maurer und­­ Sandra­ Kernenbach).
Der fünfzehnjährige Jakob, blitzgescheiter Sportstar des Dorfes, hat die Liebe der Bürgermeisternichte Maria gewonnen, kann sich aber trotz aller Warnungen seiner Mutter (Olja Artes) der Freundschaftsdynamik nicht entziehen. Das mit dem Vaterwerden hat noch Zeit, aber bei der heimlichen Verlobung offenbart Maria ihm ein gefährliches Geheimnis: Sie ist Jüdin und weiß von den Vernichtungslagern im Osten. Bürgermeister Gustav Völker (Jan Herrmann), der selbst im Ersten Weltkrieg einen Arm verloren hat, verhilft dem jungen Paar zur Flucht in den Wald und wird das teuer bezahlen. Keine Lovestory-Sentimentalität: Es geht ums Überleben und die Entlarvung von Lügen. Wir können hier leider nicht alle jungen Darsteller nennen, die hoch engagiert mitrecherchiert und ihre Rollen ungemein präzis zum differenzierten Sound-Design von Ralf Sunderdick gestaltet haben.
Die mitreißende Vorstellung berührt gleichermaßen Verstand und Herz, ist ein nachdenkliches politisches Plädoyer für die Verweigerung von ­geistigem Missbrauch und geht wirklich unter die Haut. Nach einem kurzen Moment des Atemholens fulminanter Uraufführungs-Applaus.
Die Aufführung ist ausdrücklich nicht geeignet für Publikum unter 13 Jahren, aber dringend auch Erwachsenen zu empfehlen.E.E.-K.

Spieldauer ca. 2 ½ Stunden, inkl. einer Pause
Die nächsten Vorstellungen: 4.10. // 22.11. // 12.12.19

Donnerstag, 05.09.2019

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