Weißes Kaninchen, rotes Kaninchen - Euro Theater Central Bonn - kultur 149 - Oktober 2018

Immer anders

Es ist der klassische Schauspieleralbtraum: Man betritt die Bühne, kennt den Text nicht und hat keine Vorstellung davon, was man spielen wird. Es ist die klassische Theatersituation: Jemand hat in der Vergangenheit etwas für die Zukunft geschrieben, das in diesem Moment pure Gegenwart werden soll. Der 1981 in Teheran geborene Autor Nassim Soleimanpour hat es zum Prinzip seiner Stücke gemacht, die Zuschauer teilhaben zu lassen an dem magischen Augenblick, in dem ein Text durch Schauspieler zum allerersten Mal Gestalt annimmt. Noch nicht durch wiederholte Proben perfektioniert, sondern mit spontaner Neugier vom Anfang bis zum Ende.
Die Schauspielerin/der Schauspieler erhält also das Skript auf der Bühne in einem verschlossenen Umschlag. Es gibt keine Regie, kein Bühnenbild, weder Kostüm noch Maske. Nur eine Person mit einem ihr und dem Publikum unbekannten Text. Das Konzept wurde, wie Soleimanpour es selbst in verschiedenen Interviews geschildert hat, aus der Not geboren. Der Theaterstudent erhielt als Wehrdienstverweigerer keinen Pass, konnte den Iran nicht verlassen und verfasste sein erstes Theaterstück Weißes Kaninchen, rotes Kaninchen 2010 auf Englisch, um dennoch – zumindest virtuell – der Zensur zu entkommen und Grenzen zu überwinden. Mittlerweile wurde sein 2011 beim Edinburgh Fringe-Festival uraufgeführtes Stück in mehr als 25 Sprachen übersetzt und in über 50 Ländern gespielt. Die Liste der prominenten Performer, die sich weltweit dem Experiment ausgesetzt haben, ist lang und verzeichnet Namen wie Whoopi Goldberg, Ken Loach und Corinna Harfouch. Der Autor Nassim Soleimanpour lebt und schreibt übrigens seit 2013 in Berlin, wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet und kann inzwischen wieder sein Heimatland besuchen. Sein künstlerisches Prinzip der Einmaligkeit von Vorstellungen hat er bei seinen neuen Dramen beibehalten.
Bei der ausverkauften Premiere im Euro Theater Central wagte die Schweizer Schauspielerin Eva Scheurer, bekannt aus zahlreichen Theater- und TV-Rollen, den Sprung ins kalte Wasser. Lesend, spielend, körperlich ungemein präsent und sprachlich hinreißend witzig auf dem Weg ins Unbekannte. Unterhaltsam ist das Werk mit seinen darstellerisch freien Szenenanweisungen garantiert. Mit seinen eingeschriebenen politischen Subtexten aber auch verstörend. Eine raffinierte Versuchsanordnung, die gleichzeitig mit theatralen Grundmotiven spielt (es gibt fiktive Dialoge zwischen Autor und Spielern und reale zwischen Bühne und Publikum) und mit den Wirklichkeitskäfigen, aus denen nur das Möglichkeitsdenken Auswege schafft. Verraten sei nur: Manches im Menschenzoo erscheint animalisch, aus dem Zirkushut gezauberte weiße oder rote Kaninchen können beißen, und Raubtiere agieren manchmal nach Vogel-Strauß-Manier. Selbstmord aus Angst vor dem Leben oder dem Tod – Nein danke!
Das preiswerte Versuchskaninchen kann in der vorgegebenen Anordnung naturgemäß immer nur eine Person einmalig spielen. In der höchst lebendigen Koproduktion mit dem Jungen Theater Bonn und dem Schauspiel Bonn ist folglich jede Aufführung neu. Und jeder Besuch ist ein Plädoyer für junge Ideen am nach knapp 50 Jahren noch keineswegs veralteten Bonner Euro-Theater Central. E.E.-K.

Spieldauer ca. 80 Minuten, keine Pause
Die nächsten Vorstellungen:
1.-3.10.18 // 5.-6.10. // 26.-27.10.18

Donnerstag, 17.01.2019

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