Ilse Aichinger - Theater Die Pathologie - kultur 141 - Dezember 2017

Ilse Aichinger
Foto: Theater Die Pathologie
Ilse Aichinger
Foto: Theater Die Pathologie

Menschenfreundlichkeit und Weltverachtung


Als ihr Lebensmotto nannte sie 1994 in dem berühmten FAZ-Fragenbogen: „Vivere non necesse est“ (zu leben ist nicht nötig). Präziser Sarkasmus prägt die meist kurzen Geschichten, die jahrelang in etlichen Schullesebüchern auftauchten und mittlerweile fast vergessen sind. Mit „Kunst des Verschwindens“ überschrieb Klaus Kastberger in der „Zeit“ seinen Nachruf auf die österreichische Dichterin Ilse Aichinger, die am 11.11.2016 kurz nach ihrem 95. Geburtstag starb. Genau an ihrem ersten Todestag widmeten ihr die Schauspielerinnen Helga Bakowski und Maren Pfeiffer im Theater Die Pathologie eine szenische Lesung unter dem Motto „Alles, woran man glaubt, beginnt zu existieren“. Zu Leonard Cohens Song You Want it Darker – Cohen starb wenige Tage vor Aichinger – betritt man den grabesdunklen Raum. Aichingers berühmte Spiegelgeschichte, für die sie 1952 den Preis der Gruppe 47 erhielt, bildet das Gerüst der Präsentation. Der kurze Text beginnt mit dem Tod der Erzählerin und spiegelt ihr knapp 30-jähriges Leben rückwärts bis zur Geburt. Es ist jedoch kein einfacher biografischer Rückblick, sondern gebrochen durch eine fremde Perspektive, was eine dialogische Re-Lektüre geradezu einfordert.
Die mit schwarzem Rock und heller Bluse gleich kostümierten Leserinnen spiegeln das jüngere und das ältere Ich der sprachskeptischen Poetin, die im Finstern das genaue Hinschauen lernte. Mit ihrer Mutter, einer jüdischen Ärztin, überlebte sie in einem Versteck den Holocaust, musste aber zusehen, wie ihre geliebte Großmutter und weitere Familienmitglieder in ein Vernichtungslager deportiert wurden. Ihre Zwillingsschwester Helga konnte 1939 mit einem Kindertransport aus Wien nach Großbritannien fliehen und blieb als Künstlerin in London.
Bakowski und Pfeiffer lassen vor allem Aichingers verdichtete Sprachbilder zu Wort kommen mit Passagen aus ihrem 1948 erschienenen einzigen Roman Die größere Hoffnung und der frühen Kurzgeschichten-Sammlung Der Gefesselte. Darunter Das Fenster-Theater (1949), in dem eine Frau einen scheinbar verrückten alten Mann beobachtet, bis sie begreift, dass sein bizarres Verhalten nur eine „Aufführung“ für ein Nachbarskind ist. Das Misstrauen gegenüber der Wirklichkeit, die nur spielerisch zur Wahrheit wird: Hier erscheint es so leicht und schwer wie Aichingers poetische Prosa am Rand des Sich-Selbst-Verbergens. Sanft und zornig, stets mit einem spöttischen Lächeln für die Welt mit ihrem grünen Himmel und den scheinbar harmlosen gelben Sternen, die Kindern den Zutritt zum Stadtpark verwehrten, so dass sie auf dem Friedhof spielen mussten. Unter die Haut geht die kleine Erzählung von der jungen Frau, die in einer Wiener ­Bäckerei mit ihrem mühsam ersparten Geld eine Torte kaufen möchte. Und fortgejagt wird, weil sie den Judenstern am Mantel trägt.
Bis ins hohe Alter mit vielen Preisen ausgezeichnet, blieb Aichinger merkwürdig unscheinbar. Aber wie Kafka eine überzeugte Kino-Liebhaberin, fasziniert von der flüchtigen Magie des Augenblicks. E.E.-K.

Spieldauer ca. 70 Minuten, keine Pause
Die nächsten Vorstellungen:
12.12. 17 // 11.01.18

Dienstag, 16.01.2018

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