Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten - Werkstatt (Theater Bonn) - kultur 132 - Januar 2017

Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten
Foto: Thilo Beu
Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten
Foto: Thilo Beu

Flirrende Fluchtlinien


Eine deutsche Adelsfamilie im Frühjahr 1793 auf der Flucht vor den französischen Revolutionstruppen. Johann Wolfgang von Goethe war als eine Art Kriegsberichterstatter bei der Belagerung von Mainz und der unter massiven Verlusten in der Zivilbevölkerung zurückeroberten Stadt dabei und notierte am 28. Mai 1793 im preußischen Hauptquartier: „Wie aber der Mensch überhaupt ist, besonders aber im Kriege, dass er sich das Unvermeidliche gefallen lässt und die Intervalle zwischen Gefahr, Not und Verdruss mit Vergnügen und Lustbarkeit auszufüllen sucht, so ging es auch hier (…), wobei eine Flasche Champagner nach der anderen geleert wurde.“ Aufmerksame Leser müssten nun sofort widersprechen, denn das Zitat stammt aus den knapp drei Jahrzehnte später formulierten und damit fiktionalisierten Tagebüchern des Dichterfürsten. 1795 erschienen jedoch in Schillers Zeitschrift Die Horen Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, eine Novellenfolge auf der Spur von Boccaccios Decamerone, wo eine Gruppe von Florentinern vor der Pest aufs Land flüchtet und sich Geschichten gegen die Todesangst erzählt.
In der Inszenierung der für ihre akustischen Bühnenexperimente bekannten Regisseurin Luise Voigt wird daraus ein sichtbares Sprachspiel. Sie rahmt die „unerhörten Be­gebenheiten“ ein in Goethes „Regeln für Schauspieler“. Die fünf Akteure müssen also gehorsam Fingerübungen, manierierte Ges­ten und Redeposen vollführen, während sie in grauen Rokoko-Outfits (Kostüme: Maria Strauch) Halt suchen im Ungeheuren. Oder eben in fixierten Verhaltensmustern, die durch ästhetische Bildung das Wahre, Schöne und Gute verteidigen. Birte Schrein in der Rolle der Baronesse ist die nüchterne Realis­tin, die auf gemeinsame Rettung sinnt. Bernd Braun als strenger Geistlicher erzählt Frivolitäten, die die junge Luise (Mareike Hein) zum Erröten bringen könnten, wenn sie nicht so verzweifelt auf Nachricht von ihrem im Feld stehenden Verlobten wartete. Daniel Breitfelder gibt den revolutionären Heißsporn Karl, Manuel Zschunke den Anarcho-Romantiker Friedrich.
Im Vordergrund schimmert das silberne Band des Rheins, im Licht von Lothar Krüger vielfach im Hintergrund gebrochen. Alle Stimmen klingen oft verfremdet, ab und zu fallen Tropfen auf die Mikros und erzeugen das Geräusch bedrohlich nahenden Kanonendonners. Aber es gibt die Märchenschlange, die sich in eine Brücke verwandelt, wenn die Not an Hoffnungsgrenzen stößt.
Die Aufführung in der Werkstatt ist ein Hörspiel zum Sehen, hochkonzentriert mit narrativen Abschweifungen, die gespenstisch genau aktuelle Bruchstellen markieren.
Dramatischer Purismus, der tief unter die Haut geht. Dringend zu empfehlen für erwachsenes Publikum mit kritischem Denkanspruch. E.E.-K.
Spieldauer ca. 90 Minuten, keine Pause
Die nächsten Vorstellungen:
29.12., 11.01., 14.01., 19.01., 5.02., 25.02.17

Dienstag, 24.01.2017

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