Pousseur, Henri (1929 - 2009)

Henri Pousseur
Foto: Philipp Hennecke
Henri Pousseur
Foto: Philipp Hennecke

kultur 125 - April 2016

Der in Malmédy, in der Provinz Lüttich, geborene französischsprachige Komponist verlebte seine Jugend im östlichen, deutschsprachigen Teil von Belgien. Von 1947 bis ’52 studierte Pousseur in Lüttich und Brüssel; durch seinen Orgellehrer Pierre Froidebise lernte er die Zwölftontechnik kennen und begegnete erstmals Pierre Boulez. Letzterer vermittelte ihm gründliche Kenntnisse der Harmonik Anton Weberns. Bereits während seines ersten Studienjahres gründete Pousseur einen Studentenchor, mit dem er regelmäßig Musik des Mittelalters aufführte. Von 1949 bis ‘52 war er Organist an der Kirche Saint-François des Sales in Lüttich.
Während seines Militärdienstes in Mechelen (1952/53) knüpfte Pousseur Kontakte zu Karlheinz Stockhausen und Karel Goeyvaerts. Seit 1954 besuchte er die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt; hier war er ab 1957 auch als Dozent tätig. Im Kölner Studio für elektronische Musik des NWDR sammelte Pousseur erste Erfahrungen, bevor er 1957 auf Einladung Luciano Berios im Studio di fonologia musicale in Mailand arbeitete. 1958 gründete er das Studio für elektronische Musik APELAC in Brüssel. Seit den 1960er Jahren arbeitete Pousseur mit Michel Butor, dem führenden Schriftsteller des französischen „nouveau roman“, zusammen. Von 1966 bis ’68 lehrte der Komponist an der State University of New York in Buffalo. Seit 1970 lebte er in Lüttich, wo er Komposition sowohl an der Universität als auch am Conservatoire unterrichtete. 1975 wurde er zum Direktor des Conservatoire berufen und arbeitete in dieser Funktion eng mit dem Centre de recherches et de formation musicales de Wallonie zusammen. Er wandelte das Conservatoire in eine moderne, der zeitgenössischen Musik offen stehende Musikhochschule um. Aufgrund dessen wurde er 1983 eingeladen, das Institut de pédagogie musicale in Paris zu formieren, dessen Direktor er 1985 bis ’87 war. 1994 bis ’99 war Pousseur Gastprofessor und -komponist am Institut für Musikwissenschaft der Katholischen Universität Löwen. Er erhielt Ehrendoktortitel der Universitäten von Metz und Lille III und im Jahr 2004 wurde Pousseur für sein Lebenswerk von der Akademie Charles Cros ausgezeichnet. Der Komponist starb nach längerer Krankheit an den Folgen einer Lungenentzündung.
Harmonik und Form sind für Pousseur die wichtigsten Bereiche seines musikalischen Denkens. Die kompositorische Arbeit mit dem seriellen System (s.u.) empfand er seit den 1960er Jahren zunehmend als Einschränkung. „Die Idee einer Methode, die es erlauben würde, Schritt für Schritt (und auf geregelte Weise) Webern in Monteverdi zu verwandeln oder umgekehrt, ließ mir keine Ruhe.“ In der Folge entwickelte der Komponist ein System von „Intervallnetzen“, um den Zusammenhang einer harmonisch uneinheitlichen Komposition zu gewährleisten. Dadurch entstanden fließende Wechsel von einem Tonordnungssystem zum anderen, von modalen zu tonalen, atonalen, dodekaphonen und seriellen Systemen bis hin zur Blues-Tonleiter. Zu einem Höhepunkt dieses „Seritonalismus“ gelangte Pousseur in seinem frühen Hauptwerk, der Fantaisie variable mit dem Titel Votre Faust (Uraufführung 1969 an der Mailänder Scala). Im zweiten Teil dieser Oper kann das Publikum an bestimmten Knotenpunkten der Handlung über das weitere Geschehen abstimmen und sich so bei jeder Aufführung jeweils „seinen Faust“ wählen. Bereits 1957 entstand mit dem Werk Scambi ein frühes Schlüsselwerk der mobilen bzw. offenen Form. Die 32 auf Tonband festgelegten Sequenzen sind austauschbar; sie können jeweils neu angeordnet werden. Im Jahr darauf realisierte Pousseur mit Rimes eines der ers­ten Werke, das elektronische mit instrumentalen Klängen verbindet. Pousseur verwendete neben Zufallsoperationen (Aleatorik) auch Zitate in seinen Kompositionen und lässt auch Raum für Improvisation. In dem 1992/93 entstandenen Dichterliebesreigentraum, seinem Hauptwerk der späteren Zeit, wird das musikalische und textliche Material aus Schumanns Liederzyklus völlig dekonstruiert, um anschließend in einer neuen, sehr präzisen Struktur reorganisiert zu werden.
Neben fast 200 Partituren hat Pousseur auch zahlreiche Artikel und mehrere Bücher über Musik geschrieben. Wie in seinen Kompositionen (z.B. Suite du massacre des innocents, 1997) thematisierte Pousseur auch in seinen Schriften wiederholt das Verhältnis der Neuen Musik zu Gesellschaft, politischen und kulturellen Fragen (beispielsweise in Musique, sémantique, société, 1972). Auch zur Reform der Musikpädagogik erschienen einige Beiträge. Seine eigene musikpädagogische Arbeit war Ausdruck des grundlegenden Wunsches, die Neue Musik einem möglichst breiten Publikum nahezubringen. Sein Werk Méthodicare führt Kinder, die mit dem Musikunterricht beginnen, schrittweise in die Welt der zeitgenössischen Musik ein. E.H.


Hörtipps:
- Dichterliebesreigentraum; Pousseur, Harvey, Ader, Foccroulle, Choeur de Chambre de Namur, Orchestre Philharmonique de Liege, Bartholomee; Cypres.
- Aquarius-memorial; Rzewski, Beethoven Akademie, Bartholomee; Cypres.

Donnerstag, 07.07.2016

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