Hoffmanns Erzählungen - Oper Bonn - kultur 115 - April 2015

Hoffmanns Erzählungen
Foto: Theater Bonn
Hoffmanns Erzählungen
Foto: Theater Bonn

Einen Überraschungs-Coup gibt es gleich zu Beginn dieser an szenischem Einfallsreichtum kaum zu überbietenden Aufführung: Der Teufel persönlich unterbricht schon nach den ersten Takten den Dirigenten Hendrik Vestmann, um dem Komponisten Offenbach eins auszuwischen. Der hat nämlich in seiner Operette Orpheus in der Unterwelt den Höllenherrscher verspottet. Teufel kennen diesbezüglich keinen Spaß und haben dafür gesorgt, dass von Offenbachs Partitur nach seinem plötzlichen Tod nur Fragmente übrig blieben und die Opernhäuser in Paris und Wien in Flammen aufgingen.
Das frankokanadische Regie-Team Renaud Doucet (Inszenierung) und André Barbe (Bühne und Kostüme) setzt den Mächten der Finsternis eine sinnliche Fantasie entgegen, die fünf Akte lang äußerst kurzweilig bleibt. Man spielt die rekons­truierte Fassung von Michael Kaye und Jean-Chris­tophe Keck, die dem neuesten Forschungsstand entspricht. Es gibt aber vor allem unglaublich viel zu sehen in der Albtraumwelt des Dichters E.T.A. Hoffmann, dessen Erzählungen mit dem Umweg über ein französisches Drama von Jules Barbier und Michl Carré den Stoff lieferten für Jacques Offenbachs einzige große Oper. Eine verkohlte Theaterruine liefert den Hintergrund für die „Höllenbar“, in der der Dichter Hoffmann mit seinen Zechkumpanen feiert und das berühmte Lied vom „Kleinzack“ vorträgt, bevor er zunehmend benebelt den Erinnerungen an seine unglücklichen Liebeserlebnisse verfällt. Der junge französische Tenor Sebastien Guèze, kurzfristig in der Titelpartie eingesprungen, bringt neben stimmlicher Brillanz und feinem Ausdruck auch die schauspielerische Ausstrahlung mit für den romantischen Künstler, der verzweifelt die wahre Liebe sucht. Die Operndiva Stella, die gerade als Mozarts Donna Anna Bühnentriumphe feiert, wird ihm vor der Nase weggeschnappt von dem mächtigen Politiker Lindorf. Der Bass Martin Tzonev singt auch die drei anderen diabolischen Gegenspieler des Dichters mit großartiger Stimmkraft und darstellerischer Raffinesse.
Ein Ereignis ist zweifellos die fabelhafte Sopranistin Netta Or, die alle vier Frauentypen mit ihren extrem unterschiedlichen Stimmfarben verkörpert. Sie ist die Puppe Olympia mit ihren bis ins Absurde gesteigerten künstlichen Koloraturen, die todkranke Antonia mit ihrer Femme-fragile-Ausstrahlung, die unverschämt verführerische venezianische Kurtisane Giulietta und schließlich wieder der Opernstar Stella. Der seelenlose Automat, die empfindsame Sängerin, die Bordellkönigin und die erfolgreiche Künstlerin – Or überzeugt in allen Facetten von Hoffmanns Weiblichkeits-Projektionen.
Was in dessen Rauschfantasien abläuft, ist ein Bühnen-Horrortrip, dessen optische Opulenz kaum noch zu übertreffen ist. Allein das irrsinnige Menschmaschinenreich im zweiten Akt ist ein grandioses Schimären-Spektakel. Mit eigenen Augen sehen sollte man beispielsweise das kopflose Wesen, das eine riesige Kiste mit Kinderköpfen herumträgt, deren lebendige Augen der mysteriöse Optiker Coppelius für seine Experimente verwendet. Herrlich bizarr ist auch Olympias Kleid, unter dem putzige Beinchen erscheinen, die ihre Herrin sich sogar mal über die Schulter wirft.
Ruhe gönnt sich die Aufführung beim lyrischen dritten Akt im expressionistischen Schwarz-Weiß-Stummfilm-Look. Es ist kalt in Cres­pels bürgerlichem Salon, Schneemassen bedecken den Flügel der schwindsüchtigen Antonia, für die das Singen Sterben bedeutet. Wie bereits für ihre Mutter (Charlotte Quadt), die hier auf Geheiß des geheimnisvollen Doktor Miracle tatsächlich aus dem Totenreich erscheint. Der Arzt mit Nosferatu-Anmutung darf sich in der Intendantenloge amüsieren über das Gelingen seines mörderischen Werks.
An grandios makabren Bilden mangelt es der ganzen Aufführung nicht – bis hin zur frivolen Show mit Totenkopf- und Commedia dell’Arte-Masken als Hingucker bei der ansonsten recht spärlichen Bekleidung einer ansehnlicher Tänzerinnentruppe im Venedig-Akt. Dass zur populären Barcarole noch zwei nackte „Rheinnixen“ (die Feenmusik aus Offenbachs gleichnamiger Oper ging in Hoffmanns Erzählungen ein) auf Mondsicheln herumschweben, ist zumindest ein hübscher Effekt.
Gute Miene zum bösen Halluzinations-Spiel macht Susanne Blattert als Muse, die sich in Hoffmanns treuen Begleiter Nicklausse verwandelt. Die androgyne Rolle scheint der beliebten Mezzosopranistin (alternierend mit Kathrin Leidig) geradezu auf den gertenschlanken Leib geschrieben. Bronzefarben geschminkt wie eine Metallskulptur erscheint sie als Alter Ego des Komponisten. Der taucht ansonsten nicht nur im Hirnzentrum des Kopfräderwerks im ersten und letzten Akt auf, sondern tarnt sich auch in den Gestalten von Cochenille, Frantz und Pitichinaccio (gesungen von dem Tenor Christian Georg).
Bis in kleinste Momente präzis gestaltet sind alle Figuren dieses wahnsinnigen Panoptikums. Rolf Broman (Luther/ Crespel), Johannes Mertes (Andrés / Spalanzani), der Opernchor unter der Leitung von Volkmar Olbrich, diverse Chorsolisten und die Statisterie sorgen für ein atemberaubendes Musiktheater-Highlight. Unter dem temperamentvollen Dirigat von Hendrik Vestmann spielt das Beethoven Orchester Bonn so inspiriert, dass selbst Satan keine Einwände mehr geltend machen kann. Der Premierenbeifall für vier unterhaltsame Stunden steigerte sich zu Ovationen. Ein Wunsch ist fürs Bonner Publikum leider nicht erfüllbar: Eine Wiederaufnahme in der kommenden Saison wird es nicht geben. Die intelligente Produktion (Riesenkompliment an die hervorragenden Werkstätten des Theaters Bonn!) wandert demnächst an die Wiener Volksoper, ohne deren finanzielle Mitwirkung solcher Ausstattungsglanz kaum denkbar wäre. E.E.-K.
Spieldauer ca. 4 Stunden, keine Pause

Dienstag, 08.09.2015

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