Milhaud, Darius (1892 - 1974)

kultur 111 - Dezember 2014

Der in Marseille geborene Komponist wuchs in einer wohlhabenden Familie in Aix-en-Provence auf. Sein Vater, ein begabter Amateurpianist, und seine Mutter, eine talentierte Altistin, förderten ihren Sohn, der seit dem siebten Lebensjahr Violinunterricht hatte und bereits mit zwölf Jahren in kleinen öffentlichen Konzerten auftrat. Im Streichquartett seines Lehrers Léo Bruguier spielte Darius die zweite Violine. 1909 zog er zu Studien am Conservatoire nach Paris. Seine Lehrer dort waren Berthelier (Violine), Widor (Fuge), Dukas (Orchesterleitung), Leroux (Harmonielehre) und Gédalge (Komposition, Kontrapunkt und Instrumentation). Milhauds Kontakt mit der Literatur u.a. André Gides und Paul Claudels sowie seine Freundschaft mit Armand Lunel, später einer seiner bevorzugten Librettis­ten, und Léo Latil bildeten seinen eigentlichen Schaffensimpuls. Der Komponist experimentierte mit Ausformungen des Prosaliedes und legte mit La Brebis égarée op. 4 sein Operndebüt vor.
Die Kompositionen Claude Debussys beeinflussten Milhauds frühe Werke. Während seiner Studienzeit interessierte er sich vor allem für Werke Ravels, Saties und Gounods; auch die Ballets russes und Schönbergs frühe atonale Klavierwerke beeindruckten ihn. 1912 traf Milhaud Paul Claudel, mit dem er in den folgenden Jahrzehnten ein musikdramatisches Konzept entwickelte, das im Kontext eines „totalen Theaters“ stand.
Durch Claudel gelangte Milhaud während des Ersten Weltkriegs für zwei Jahre nach Brasilien. Dieser „exotische“ Einfluss auf sein künstlerisches Schaffen machte sich erstmals in Kompositionen wie Le Retour de l’enfant prodigue op. 42 und L’Homme et son désir op. 48 bemerkbar. Zurück in Paris wurde der Komponist zu den Wortführern der Groupe des Six (s.u.), die ihre aufmüpfigen Parolen im Periodikum „Le Coq et l’Arlequin“ veröffentlichten. In Milhauds Wohnung trafen sich allwöchentlich Vertreter aller Kunstsparten; die Bar Gaya wurde das „Hauptquartier“ der Six (und künftig benannt nach Milhauds Skandalballett Le Bœuf sur le toit). Während dieser „années folles“ (verrückten Jahre) waren Künstler wie Pablo Picasso oder Coco Chanel an der Ausstattung seiner Bühnenwerke beteiligt.
Im Juni 1920 gewann Milhaud in einem Londoner Konzert der New Yorker Band Billy Arnolds Einblicke in die Jazzwelt. Kurz darauf legte er mit Caramel Mou op. 68 oder Trois Rag-Caprices op. 78 eigene Kompositionen vor. Der Höhepunkt seiner Karriere war die Uraufführung der Oper Christophe Colomb op. 102 in der Berliner Staatsoper Unter den Linden.
Zwischen 1919 und ’30 unternahm er Reisen durch Dänemark, Ägypten, Sardinien, die UdSSR und Amerika, begab sich auf lange Tourneen als Pianist und Dirigent und betätigte sich als Musikkritiker. Milhaud komponierte auch Kurz-zeit- und Kammeropern, sowie eine Folge von sechs aberwitzig kurzen Kammersymphonien in wechselnder Besetzung. In den 1930er Jahren schuf der Komponist zahllose Werke für die neuen Medien Film und Rundfunk. Außerdem entstanden Kompositionen für Kinder und für öffentliche Ereignisse wie die Pariser Weltausstellung von 1937. Immer öfter arbeitete Milhaud auch eigene Bühnenpartituren oder Teile daraus zu Solo- und Kammermusikwerken um.
Kurz nach der Aufführung seiner Oper Médée op. 191 erfolgte die Besetzung Frankreichs. Noch während der Überfahrt in die USA erhielt der Komponist das Angebot eines Lehrstuhls am kalifornischen Mills College in Oakland. Neben dieser Tätigkeit wirkte er an der Summer School von Aspen (Colorado) und übernahm die Verantwortung für eine Musikakademie in Santa Barbara. 1947 zurück in Frankreich wurde er als Professor ans Pariser Conservatoire berufen. Bis ins hohe Alter behielt Milhaud die beiden Lehrtätigkeiten in Kalifornien und in Paris bei. Zu seinen bekanntesten Schülern auf beiden Kontinenten zählten u.a. der Jazzpianist Dave Brubeck und Steve Reich.
Nach 1950 konnte sich Milhaud vor Auftragskompositionen durch Mäzene, Orchester, Dirigenten und Regierungen kaum retten. Seit 1965 entstanden die auf Widmungsträger und Auftraggeber zugeschnittenen „Musique pour“-Werke (Musik für) in wechselnder Besetzung, die entweder Städte oder Interpreten porträtierten. Milhauds unermüdliche Kompositionstätigkeit brachte 443 Werke hervor, von denen kein einziges unvollendet blieb. Ästhetisch und kompositionsgeschichtlich eilte der Komponist seiner Zeit oftmals voraus. Er war ein unabhängiger Geist, der nie zwischen der sogenannten „ernsten“ Musik und der Unterhaltungsmusik unterschied. „Je n’ai pas d’esthetique, de philosophie, de théorie, J’aime écrire de la musique“ (Ich habe keine Ästhetik, keine Philosophie, keine Theorie, ich liebe es, Musik zu schreiben).
Milhaud wurde mit zahlreichen staatlichen Auszeichnungen geehrt. Seine Großzügigkeit, Bescheidenheit und menschliche Größe waren sprichwörtlich. Von 1948 an fast ununterbrochen an den Rollstuhl gefesselt, fand der Komponist in seiner bereits 1925 geehelichten Frau (seine Cousine Madeleine, Schauspielerin und Sprecherin in Bühnenwerken Strawinskys und Honeggers) eine treue Begleiterin, die sich über seinen Tod hinaus mit Sachkenntnis für die künstlerischen Angelegenheiten ihres Mannes einsetzte.E.H.


Hörtipps:
- Six chamber symphonies, Le bœuf sur le toit, Le carnaval d’Aix,­ ­Orchestra of Radio Luxembourg, Darius Milhaud, Brilliant Classics.
- Saudades do Brazil, Le Carnaval de Londres, Trois Rag-Caprices, ­Capella Cracoviensis, Karl Anton Rickenbacher, Koch Schwann

Donnerstag, 15.01.2015

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