Lulu - kultur 78 - Juli 2011

Femme mortale: Lulu in den Kammerspielen

Lulu weiß nicht, woher sie kommt und wer sie ist. Die Männer nennen sie Mignon, Nelly, Eva, Katja und versuchen, das „wahre wilde, schöne Tier“ nach ihren Weiblichkeitsvorstellungen zu formen – meist mit letalem Ausgang. Der „Erdgeist“ Lulu kennt keine Moral und deshalb auch keine Schuld. Lulu bleibt ein Kind in einem Frauenleib, naiv verführerisch, erotisch bedenkenlos, lieblos besessen von der Liebe. Sie verfolgt keine Strategie, dominiert nicht, unterwirft sich nicht. Lulu ist einfach da und lässt passieren, was unvermeidlich ist. Anastasia Gubareva spielt die Kindfrau, die Täterin und Opfer wird, mit bravouröser körperlicher Intensität.
In der Inszenierung von Markus Dietz rennt sie gleich zu Beginn, notdürftig bekleidet, der ganzen Männerriege entgegen, die sie brutal zurücktreibt, bis sie mit gespreizten Beinen vor dem im Hintergrund wartenden Ensemble sitzt. Die Schauspieler bleiben in den ersten Akten stets auf der Bühne präsent, sind Beobachter wie das Publikum im Zuschauerraum. Im suggestiven Bühnenbild von Mayke Hegger heben und senken sich halbtransparente Wände, hinter denen das Geschehen manchmal nur schemenhaft erkennbar ist. Der Regisseur Dietz hat die Urfassung von Wedekinds Tragödie als Textgrundlage gewählt, also die Variante, in der die später getrennten Teile Erdgeist und Büchse der Pandora 1895 noch eine Einheit bildeten. Interessant ist das angesichts der komplizierten Veröffentlichungs- und Aufführungsgeschichte des Stückes aber nur insofern, als er den turbulenten Paris-Akt wie im Original auf englisch und französisch laufen lässt, was um die vorletzte Jahrhundertwende viel mit der deutschen Zensur zu tun hatte und heute nur noch so abgeschmackt prickelt wie Rotkäppchensekt in der Russendisko.
Mit dem Maler Eduard Schwarz (eindrucksvoll: Arne Lenk) suhlt Lulu sich reichlich überflüssig schon mal dramatisch in blutroter Farbe, bevor dieser zeitweise Ehemann und Künstler von Dr. Schönings Gnaden sich die Kehle durchschneidet. Schöning (in späteren Stückversionen Wedekinds heißt er nur noch Schön) hat das merkwürdige, mit der unheilvollen Büchse der Pandora bewaffnete Wesen aus der Gosse geholt, mehr oder weniger zivilisiert und zwecks lukrativer eigener Eheabsichten an den alten Medizinalrat Dr. Goll (Ralf Drexler) verschachert, der brav einem Herzinfarkt erliegt, wenn er Schwarz mit seinem Modell in flagranti erwischt.
Der bürgerliche Feuilleton-Schöngeist Schöning (brillant zynisch: Hannes Hellmann als Gast), der als einzige Figur echt dramatisch intrigant vorausdenkt, demütigt Lulu in einer Sado-Maso-Szene so widerwärtig, dass sie seine Pistole unplanmäßig benutzen muss. Zumal sie zuvor Schönings Sohn Alwa (Nico Link) mit Champagner und einem wahrhaftig nicht jugendfreien Outfit (Kostüme: Henrike Bromber) nach allen Regeln der Playgirl-Kunst flachgelegt hat.
Die lesbische Gräfin Geschwitz (Christine Schönfeld) hat gegen Lulus Männerkonsum wenig Chancen und opfert sich für das triebhaft mörderische Geschöpf, das Sex mit allen hat, bevor es deren Opfer wird. In den feinen Salons der Upper-Class wird mit Bergen von Schweizer Jungfrauen-Aktien und Adelstiteln gehandelt, bis die Spielbank pleite ist und Bankier Puntschuh (quicklebendig: Ralf Drexler) seine Schäfchen ins Trockene bringt. Ein bisschen Lolita-Charme ist bei der heißen Party angesagt, bevor Lulus potenter neuer Lover Casti Piani (Falilou Seck) einen coolen Deal parat hat: Knast in Europa oder Luxusbordell in Nordafrika.
Beides ist leider nicht das Ding von Lulu, die so frei leben will, wie sie zur Welt kam. Mit dem väterlichen alten Schigolch (Heiner Stadelmann) teilt sie ein prägendes Geheimnis, dass man ungern auflösen möchte. Der dreckige Typ hat mythisch was zu tun mit Lulus reiner Seele. Er folgt ihr ebenso treu ins Londoner Exil wie Alwa, der neben dem Bett zusammenhält, was Lulu im Bett verdient.
Die harte Arbeit am männlichen Geschlecht wird auf der menschenleeren Bühne zur puren Qual. Ein impotenter Sektenfreak (noch mal der schauspielerisch exzellente Ralf Drexler), ein verklemmter Wissenschaftler (mit gruseligem Kölsch: Birger Freese) und ein bulliger afrikanischer Stammesfürst (Falilou Seck) handeln den Liebesdienst auf null runter. Alwa und die Geschwitz sind eh schon Leichen, wenn der Lustmörder Jack the Ripper (Konstantin Lindhorst) sein blutiges Handwerk beginnt und keuchend Lulus nackten Leib auf der Suche nach einem Herzen seziert, bis er triumphierend einen blutig pochenden Muskel findet.
Lulu hat nie ein romantisches Herz oder gar ein Gewissen gehabt und ist deshalb Wedekinds Phänotyp der Liebe: Ein Fremdkörper, vollkommen asozial, amoralisch und unmäßig pure Lust begehrend. In der Regie von Markus Dietz bleibt das komplexe Stück trotz vieler guter schauspielerischer Leistungen (wir können hier nicht alle Mitwirkenden nennen) leider irgendwo hängen zwischen bravem sozialem Realismus und radikaler Künstlichkeit. Einige Stunden Lebenszeit ist die Aufführung wegen vieler subtil gedachter und weiter denkbarer Momente dennoch wert. E.E.-K.

Aufführungsdauer: ca. 3½ Std., eine Pause
Im Programm bis: 16.07.11
Nächste Vorstellungen: 3. / 8. / 16.07.11
Lulu wird nicht in die neue Spielzeit übernommen!

Samstag, 04.02.2012

Zurück

Merkliste

Veranstaltung

Momentan befinden sich keine Einträge in Ihrer Merkliste.


Letzte Aktualisierung: 20.04.2024 11:01 Uhr     © 2024 Theatergemeinde BONN | Bonner Talweg 10 | 53113 Bonn