Lucia di Lammermoor - kultur 37 - Mai 2007

Der Wahnsinn der Liebe - Lucia di Lammermoor von Gaetano Donizetti in der Oper

Es schneit in Schottland. Zwischen den hohen, glatten Wänden des strengen Bühnenbildes von Ausstatter Helmut Stürmer herrscht eisige Kälte. Der Schnee breitet sich wie ein Leichentuch über den Boden. Mit der überalterten, glatzköpfigen, knüppelbewehrten Ritterschar, die Lord Enrico Ashton noch geblieben ist, lässt sich keine Schlacht mehr gewinnen. Später verpasst Stürmer dem ganzen Chor (wie immer musikalisch bestens präpariert von Sibylle Wagner) graue Anzüge und Hüte auf den bis auf ein paar sparsam verteilte graue Strähnen kahlen Köpfen und lässt das müde Greisenvolk an Krücken humpeln. Mit solchen Gefolgsleuten ist der alte Glanz der Familie Ashton nicht wieder herzustellen. Regisseur Silviu Purcarete zeigt in seiner düsteren, aber sehr stringenten Inszenierung von Donizettis tragischer Oper Lucia di Lammermoor eine rettungslos verlorene Untergangsgesellschaft. Gegen die Schauerromantik des 19. Jahrhunderts setzt er eine irrlichternde Psychologie und Bilder von verstörender Eindringlichkeit.
Lucia erscheint von Anfang an als Gefährdete, deren hilflose Verzweiflung nur ein kleiner Schritt vom Abgrund des Wahnsinns trennt. Eine fragile Schönheit, die unter den Strahlen der Liebe nicht mehr aufblüht, sondern ständig vom kalten Wind des tödlichen Irrsinns umweht ist. Eine unendlich einsame junge Frau, die von Albträumen und Schre­ckensvisionen heimgesucht wird und ihr Herz an den geliebten Edgardo eher verloren als hingegeben hat. Am Grab ihrer Mutter trifft sie ihn heimlich, ihre Liebessehnsucht ist immer verbunden mit Trauer und Schmerz. Die isländische Sängerin Sigrún Pálmadóttir (im Bonner Opernensemble zum großen lyrisch-dramatischen Sopran gereift) spielt und singt die Titelpartie - eine der größten Herausforderungen der Operngeschichte - absolut fabelhaft. Ihre Stimme meistert die schwindelerregenden Höhen mühelos, bringt alle Klangfarben in diesem komplexen Seelengemälde zum Leuchten und erzeugt in der großen Wahnsinnsszene im 2. Akt fast 20 Minuten lang eine emotionale Hochspannung, die den Vergleich mit berühmten früheren Interpretinnen dieser Rolle nicht zu scheuen braucht.
Vor diesem dramatischen Höhepunkt sickerte langsam Blut aus dem Hochzeitsgemach über den jungfräulich weißen Schnee. Blut, das Lucia schon ahnte, als ihr am Brunnen der Geist einer ermordeten Frau erschien und in ihrer Phantasie den klaren Quell in einen Blutstrom verwandelte. Ihre Vertraute Alisa (Anjara I. Bartz macht aus der winzigen Rolle ein kleines Glanzstück) hat sie wie eine Krankenschwester sanft in die Arme genommen und versucht, ihre furchtbaren Gedanken und wehmütigen Hoffnungen zu verscheuchen. Ihr Bruder Enrico (als skrupelloser Machtmensch: der hervorragende junge griechische Bariton Aris Argiris) hatte herausbekommen, dass sie seinen politischen Erzfeind Edgardo, den verarmten Grafen von Ravenswood, liebte. Der - in der anspruchsvollen Tenorpartie brilliert der türkische Sänger Bülent Külekci - hatte zwar vor seiner Abreise nach Frankreich noch schnell mit Lucia den Schwur ewiger Liebe getauscht, dabei aber wohl schon seine höheren politischen Aufgaben im Kopf. Enrico hatte ohnehin längst Lord Arturo Bucklaw für Lucia auserkoren, einen einflussreichen Höfling, der der Familie Ashton wieder zu Ansehen und Reichtum verhelfen sollte. Die mit Hilfe von Enricos ergebenem Gefolgsmann Normanno (Georg Zingerle) und des braven Geistlichen Raimondo (Martin Tzonev) erzwungene Unterschrift hat Lucia zutiefst widerstrebend unter den Ehekontrakt gesetzt. Die Hochzeitsgäste haben dem riesigen Porträt des jungen Edelmanns so gespenstisch zugejubelt und begeistert ihre Gehhilfen geschwungen, als ob sie den Erlöser persönlich erwarteten. Arturo (der blutjunge russische Tenor Alexey Kudria, ab der nächsten Spielzeit fest im Bonner Sängerensemble) hat sich als eitler Fant präsentiert, Geldscheine in die Menge geworfen und die Braut geschnappt. Und dann stand Edgardo plötzlich wieder da, traute seinen Augen nicht und der Treue seiner Geliebten noch viel weniger. Die Geschichte läuft also mit irrwitziger Konsequenz auf die grausame Lösung zu: Lucia ersticht den verhassten Gatten im Brautbett. Wenn sie im blutbesudelten Gewand in die erstarrte Festgesellschaft zurückkehrt, scheint sie jedoch nicht den Verstand verloren, sondern genau den Moment der höchsten Hellsicht erreicht zu haben, bevor ihr Geist im unüberwindlichen Wahn vom Liebesglück für immer verschwindet. Sigrun Pálmadóttir gestaltet die Szene mit atemberaubender musikalischer und darstellerischer Intensität.
Dass nach dieser Belcanto-Orgie und Lucias Totenglocke auch Edgardo sein Leben aushauchen muss, ist ebenso sicher wie dramaturgisch undankbar. Bülent Külekci gewinnt in der fatalen letzten Szene allerdings solch großes, tenoral kraftvolles Format, dass der Spannungsbogen nicht bricht. Im Orchestergraben sorgt der ständige Gastdirigent Erich Wächter am Pult des Beethoven Orchesters Bonn für die sensible musikalische Feinabstimmung und bewegenden Farbenreichtum. Ein Sonderlob verdient die junge niederländische Soloflötistin Mariska van der Sande.
Klar: Eine „Lucia“ ist immer eine Gratwanderung - und wenn's gut geht, der Triumph der Sängerin der Titelrolle. Sigrún Pálmadóttir hat triumphiert (der Applaussturm war lang und heftig). Aber niemanden in den Schatten gestellt (fast alle Sänger gaben übrigens hier ihr Rollendebüt). Diese Lucia di Lammermoor ist nicht nur dringend hörens- und sehenswert, sondern darüber hinaus auch ein glänzendes Beispiel für die sorgfältige Ensemblepflege am Bonner Opernhaus. E.E.-K.

Aufführungsdauer: ca. 23/4 Stunden, eine Pause
Im Programm bis: 1.06.07 - Wiederaufnahme: 10.10.07
Nächste Vorstellung: 9.05.07 - 19.30 Uhr

Dienstag, 06.11.2007

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