Pique Dame - kultur 49 - September 2008

Psychogramm der Leidenschaften - Pique Dame von Peter I. Tschaikowsky in der Oper

Man spielt in diesem Russland des ausgehenden 19.Jahrhunderts. Das Leben ist ein süchtig machendes Glücksspiel, bei dem Vermögen wandern und die Liebe gelegentlich auf der Strecke bleibt. Der inzwischen 75-jährige berühmte Film-, Theater- und Opernregisseur Johannes Schaaf bricht in seiner Inszenierung von Tschaikowskys spätem Meisterwerk Pique Dame die Leidenschaften in raffinierten Spiegelungen auf, lässt immer wieder neue Facetten in der Psyche der Figuren aufleuchten und vertraut dabei der dramaturgischen Präzision der Musik, die Tschaikowsky bekanntlich in einem sechseinhalbwöchigen Schaffensrausch fernab der Heimat in Florenz komponierte. Aus einem Moment purer und gleichzeitig fremder Gegenwart heraus öffnen sich Fenster in die Vergangenheit und in die Zukunft – wunderbar veranschaulicht in dem streng schwarz-weißen Bühnenbild von Hans-Dieter Schaal. Der große Raum mit seinen zahllosen Fenstern und Türen kippt langsam in eine Schieflage, verengt sich und scheint den zunehmend dem Wahnsinn verfallenden Protagonisten German am Ende zu erdrücken. Drei Akte mit sieben Bildern lang irrt er durch diesen Seelenraum auf der Suche nach dem einen erlösenden Augenblick. „Drei, sieben, As“ heißt das bekannteste Kartengeheimnis der Opernliteratur seit der Uraufführung von Pikowaja Dama 1890 in St. Petersburg. Schaaf zeigt das Stück ganz, lässt also auch das meistens gestrichene Rokoko-Schäferspiel-Intermezzo nicht aus und spielt virtuos mit den stilistischen Brüchen und harten Schnitten, mit denen Peter Tschaikowsky und sein Librettist und Bruder Modest Tschaikowsky Erzähltechniken des 20.Jahrhunderts vorwegnahmen. Dass sie dabei Alexander Puschkins 1833 erschienene Novelle nur als Anlass benutzten und deren Hauptfiguren neu motivierten, mag Philologen stören. Dem gern gegen Tschaikowsky erhobenen Vorwurf der sentimentalen Trivialisierung begegnet Schaafs Inszenierung mit einer durchaus nüchternen, aber ästhetisch brillanten Analyse der Gefühle.
Emotionale Strahlkraft entwickelt das Beethovenorchester unter der Leitung von Roman Kofman, der sensibel Stimmungen und feinste solistische Farbspuren herausarbeitet. Pique Dame war die letzte Premiere seiner Amtszeit. Auf seinen authentischen Tschaikowsky-Klang wird das Bonner Publikum dennoch nicht verzichten müssen. Er dirigiert auch die Aufführungen in der neuen Saison (Wiederaufnahme: 18. September).
Eine Augenweide sind die historischen Kostüme von Renée Listendal, die vor allem in den opulenten Massenszenen den melancholischen Grundton aufhellen. Neben dem wie immer sängerisch und spielerisch famosen Chor unter der Leitung von Sibylle Wagner glänzt beim Frühlingsfest im St. Petersburger Sommergarten der von Ekaterina Klewitz geführte Kinderchor. Dass der seltsame Außenseiter German in seinem verschlissenen Armee-Mantel ein leichtes Opfer für die frechen Spiele der blitzsauber uniformierten kleinen Nachwuchssoldaten ist, verwundert nicht. Kostadin Andreev spielt mit ausdrucksstarkem Tenor den mittellosen deutschen Offizier Hermann (russisch: German) von Anfang an als psychischen Grenzfall auf der Kippe zwischen Irrsinn und Anpassung. Dass die romantisch seufzende Tristesse dieses labilen Schwermutshelden die Gefühle der schönen, reichen Lisa verwirrt, erscheint erstaunlich. Irina Oknina macht den Zwiespalt zwischen Verstand und Herz mit traumhaft sicherem Sopran deutlich. Selbstverständlich fühlt sie sich hingezogen zu ihrem in jeder Hinsicht attraktiven Verlobten Fürst Jeletzky, den Mikael Babajanyan mit noblem Bariton verkörpert. Doch ein mächtigeres Begehren treibt sie in die Arme von German. Wunderschön zeigt Schaaf Lisas jugendliche Sehnsucht und Liebesangst in der heiter verspielten Szene im Mädchenpensionat. Grotesk travestiert wird die fatale Geschichte beim Maskenball im Haus der alten Gräfin mit anschließendem frivolem Spiel im Spiel. Stars des Intermezzos sind Susanne Blattert als verliebter Schäfer Daphnis und Anna Virovlanski als kokett auf dem Tisch tanzende Chloé (pfiffige Choreographie: Bärbel Stenzenberger), die am Ende unter der Last der von den Gästen spendierten falschen Goldketten zusammenbricht, bevor Katharina die Große als Dea ex machina vom Bühnenhimmel schwebt und dem wilden Treiben ein Ende macht (kein Regie-Einfall, sondern tatsächlich von Tschaikowsky erfunden).
Die Gespenster ihrer großen Vergangenheit als zwielichtige Schönheit und begnadete Spielerin werden die alte Gräfin später in einem leisen Totentanz einholen. Vera Baniewicz ist nicht nur das durch Korsett und Schminke zusammengehaltene, herrschsüchtige Relikt besserer Zeiten. Ihre feine Altstimme findet innige Töne für die Trauer um das einstige Glück. German kann der Lebenden das Geheimnis der erfolgreichen Karten nicht mehr entlocken, sondern erst der Toten. Die Zukunft mit Lisa hat er jedoch längst verspielt. Über die letzte Begegnung des Paares senkt sich schon der riesige Spiegelplafond, der den Horizont zwischen Himmel und Wasser auflöst. Die verzweifelte Lisa stirbt in den Fluten der Newa, während German ins Kasino taumelt.
In der spektakulären Schluss-Szene wird die Realität zur gespiegelten Halluzination. Eine wüste Orgie, in der das männliche Ensemble noch einmal zu großer Form aufläuft. Hervorragend: Vladimir Baykow als zynischer Graf Tomsky, Mark Rosenthal als unverschämt beweglicher, teuflisch komischer Spielmacher Tschekalinsky, Andrej Telegin als eleganter Ssurin (leider auch seine Bonner Abschiedsrolle). German, der sich das Spielen bisher nicht leisten konnte, setzt blind seine ersten beiden Karten und gewinnt. So viel Geld, dass keiner mehr mithalten kann. Außer Fürst Jeletzky, der in der dritten Runde einsteigt. Während statt des Asses die Pique Dame erscheint und German sich die Kugel gibt, zündet sich sein Rivale Jeletzky gelassen eine Zigarette an. So sehen todsichere Sieger aus!
Die mit einhelliger Begeisterung gefeierte Aufführung setzte am Ende der ohnehin sehr erfolgreichen Bonner Opernsaison 2007/08 noch mal einen Glanzpunkt. Wer die wenig überzeugende „Pique Dame“-Bearbeitung des Komponisten Alfred Schnittke und des Regisseurs Juri Ljubimow noch in Erinnerung hat, die in der Bonner Oper 1996 zu sehen war (man sparte damals schon – selbst den Hinweis, dass es sich tatsächlich um eine teure Reproduktion aus Karlsruhe handelte), darf sich jetzt wirklich über Tschaikowskys Original freuen. E.E.-K.

Aufführungsdauer: ca. 3½ Std., inkl. Pause
Im Programm bis: 19.12.08
Nächste Vorstellung: 18.09.08

Dienstag, 16.12.2008

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