Eines langen Tages Reise in die Nacht - kultur 55 - März 2009

Schuld und Sucht - Eines langen Tages Reise in die Nacht von Eugene O’Neill in der Halle Beuel

Die Familie Tyrone ist anscheinend bester Laune. Man schmettert ein ausgelassenes Liedchen, und Mama Mary trägt zur Feier des Tages sogar ein Krönchen. Schließlich ist sie nach einem langen Sanatoriumsaufenthalt ins traute Heim zurückgekehrt. Sehr zerbrechlich und merkwürdig abwesend wirkt sie in ihrem hellblauen Morgenmantel. Familienoberhaupt James gibt sich jovial, Sohn Jamie total aufgekratzt. Nur der Husten seines jüngeren Bruders Edmund klingt nach was Ernsterem. Jeder spielt seine Rolle in diesem Familientheater.
Der Regisseur Ingo Berk inszeniert mit einem analytisch präzisen Zugriff dieses ständige Sich-zur-Schau-Stellen, denn die Tyrones sind Schauspieler wie die Familie des amerikanischen Autors Eugene O’Neill, der in seinem posthum 1956 in Stockholm uraufgeführten Stück Eines langen Tages Reise in die Nacht seine eigene Biografie bis in Details verarbeitete. Berk deckt Schicht um Schicht und mit Mut zu feinsten psychologischen Abstufungen die Zwischenräume zwischen Wahrheit und Selbstdarstellung auf. Die Bühne von Damian Hitz ist ein riesiger Käfig aus schmalen Holzlatten. Eine steile Treppe führt hinauf in das Obergeschoss des Tyrone’schen Sommerhauses in einem Provinznest am Meer. Dort oben sind beleuchtete Spiegel wie in Künstlergarderoben aufgereiht: Wer gerade nicht im mit Sofa und Fernseher sparsam ausgestatteten Wohnzimmer die verzweifelte Mas­kerade mitspielt, bereitet sich im Stock­werk darüber für den nächsten Auftritt vor.
Rolf Mautz ist der eitle Großschauspieler James Tyrone mit sichtlich gefärbtem Haar und etwas zu engem bräunlichem Anzug (exzellente Kostüme: Kathrin Stadeler) und immer etwas zu großen Gesten. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, hat er es in zweifelhaften Broadway-Komödien zum Bühnenstar gebracht. James ist ein selbstverliebter, krankhaft geiziger Patriarch, der seine Familie führt wie ein Theaterprinzipal und bei seinen Grundstückgeschäften jedem Betrüger auf den Leim geht. Hendrik Richter zelebriert als James junior den unerschütterlichen Zynismus einer verkrachten Existenz. Er spielt virtuos den mittelmäßigen Schauspieler, der sich zumeist in anrüchigen Kneipen und Bordellen herumtreibt. Äußerst sensibel gestaltet Volker Muthmann den jungen tuberkulosekranken Edmund, in dem O’Neill sich selbst portraitiert hat. Er ist ein zarter schöngeistiger Rebell und verzweifelter Clown, der dennoch eine Überlebensenergie entfaltet, die ihn am Ende nicht ganz hoffnungslos erscheinen lässt.
Absolut grandios verkörpert Tanja von Oertzen das Sich-Selbst-Verlieren der morphiumsüchtigen Mary. Mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit balanciert sie zwischen Schmerz und Lebenslüge, Sehnsucht und Abhängigkeit, schweren Entzugserscheinungen und gespenstischer Schwerelosigkeit, wenn das Gift ihre Augen flackern, ihre Glieder tanzen und ihr verlorenes Glück über die Abgründe der Gegenwart triumphieren lässt. Irgendwann hockt sie einsam und verloren wie ein frierender flügellahmer Engel im Bühnennebel, als sähe sie erst durch dessen Brechungen die grausam zersplitterte Wirklichkeit in voller Klarheit.
Nina V. Vodop’yanova geistert als rothaariges Hausmädchen Cathleen tapfer durch die Familienhölle und knallt ihren durchgedrehten Herrschaften – schließlich sind wir in den USA! – eiskalt irgendwelches Fast-Food vor die Füße. Die Männer halten sich an Whiskey on the Rocks, zu fortgeschrittener Stunde gern auch pur – die eisernen Reserven hortet Papa unterm Sofa. Mit steigendem Alkoholpegel lösen sich die Zungen. Die verbitterte nächtliche Abrechnung zwischen Edmund und seinem Vater wird zu einem furiosen Duell zwischen künstlerischem Wollen und der bedingungslosen Kapitulation vor den Verhältnissen. Die folgende etwas zu langatmige Sauf­orgie der beiden Brüder liefert das Satyrspiel zur Tragödie. Jamie gibt’s zu: Der ehrlichs­te Schauspieler ist der Seehund, der einen Ball fängt und zur Belohnung einen Fisch bekommt. Der Rest ist Selbstekel.
Denn schuldig am Elend dieser Familie fühlen sich alle, die nach und nach ihre Wunden aufdecken. James’ Sparsamkeit hat wahrscheinlich seine Frau in die Drogensucht getrieben und droht, Edmunds Genesung zu torpedieren. Jamie hat seinen als Baby gestorbenen nachgeborenen Bruder möglicherweise bewusst mit einer tödlichen Krankheit angesteckt und will auch seinen Konkurrenten Edmund verderben. Bei dessen Geburt begann der mütterliche Abstieg. Die junge Klosterschülerin Mary hat an ihre Liebe zu dem schönen Theaterhelden geglaubt und auf dessen Tourneen in billigen Hotels ihre Kinder vernachlässigt. Von Oertzens Auftritt als verrückte schwarze Braut, die sich selig ins vom Winde verwehte Glück zurückgeträumt hat, ist atemberaubend.
In die artifizielle Textur dieses teuflischen Kreislaufs webt die Inszenierung zahllose weitere Fäden, an denen die Figuren emotional zutiefst berührend zappeln. Eine schauspielerische Glanzleistung, die man nicht versäumen darf! E.E.-K.

Aufführungsdauer: ca. 3 Std., eine Pause
Nächste Vorstellung: 01.03.09
Im Programm bis: ???

Samstag, 02.01.2010

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