Die Verwandlung - kultur 76 - Mai 2011

Ungeziefer im Menschenzoo: Die Verwandlung im Euro Theater Central

Die gleich gekleideten vier Akteure in schwarzen Hosen und gestreiften Hemden mit grauer Fliege hängen zu Beginn wie erstarrte Insekten an einem dreistöckigen Bettgestell, das die Ausstatterinnen Anne Brüssel und Astrid Hammer in der Mitte des Raumes platziert haben. Sie krabbeln und kriechen kopfüber zwischen den Latten herum, berichten ungerührt von der merkwürdigen Metamor­phose und sprechen einzelne Textpassagen im Chor. Gepanzert und schutzlos ist die ganze Familie angesichts der plötzlichen Verkäferung ihrer bürgerlichen Existenz. Gregor Samsa, Handlungsreisender und Ernährer von Vater, Mutter und Schwester, hat sich eines Morgens in ein „ungeheures Ungeziefer“ verwandelt, was allen furchtbar peinlich ist. Er ist ein Mistkäfer geworden, der hilflos auf dem Rücken liegend mit seinen Beinchen zappelt, unbegreifliche Wahrheiten und fiese Gerüche absondert und verzweifelt um einen Rest von Menschenwürde kämpft.
Es sei eine „ausnehmend ekelhafte Geschichte“ schrieb Franz Kafka im Winter 1912 während der Arbeit an seiner Erzählung Die Verwandlung an seine spätere Verlobte Felice Bauer. Stefan Herrmann inszeniert Kafkas berühmte Albtraum-Erzählung in einer Bühnenfassung des Schauspielhauses Zürich sprachlich sehr genau und gleichzeitig als körperliche Herausforderung. Seine Regie entwickelt einen musikalisch-tänzerischen Rhythmus für die Aktionen, die einen menschlichen Fremdkörper immer weiter isolieren und schließlich unmenschlich zerstören. Phi­lipp Schlomm spielt mit ungeheurem physischem Einsatz den unversehens zum widerlichen Unwesen mutierten Gregor. Er kämpft mit seiner imaginären Gestalt, den schmerzhaft einknickenden Gliedern, dem aufgeblähten Leib und den schweren Flügeln, die zum Abheben nicht taugen. Er sucht mit den Schuhen Halt am oberen Deckenbalken, klebt hilflos in seinem Bettgefängnis zwischen Oben und Unten.
Seine junge Schwester Grete schiebt ihm immer ungenießbarere Nahrung ins unheimliche Zimmer. Jana Reiß verkörpert das vom brüderlichen Unglück gerührte blonde Mädchen, für dessen Geigenstudium Gregor sparte. Sie wird freilich auch aktiv, schiebt den Bettkäfig beiseite und schafft Raum für die Wiederherstellung der sauberen Ordnung.
Johannes K. Prill als Vater gesteht am Kaffeetisch, dass die finanzielle Situation nicht so schlecht ist, wie man dem ausgebeuteten Sohn Jahre lang eigennützig vorgemacht hat. Als blutsaugerisches „Ungeziefer“ bezeichnete Kafka selbst seinen Erzeuger in seinem verbitterten langen „Brief an den Vater“. Hier vernagelt der Vater buchstäblich den Käfig seines peinlichen Sprösslings, der am Ende zwischen Nagelköpfen und -spitzen und in seinem Rücken festgefressenen, faulenden Äpfeln ver­endet. Begleitet von den Krokodilstränen, die Christine Kättner als Mutter dem sterbenden Ungeheuer widmet, nachdem die Familie es unter einer transparenten Plane versteckte, um sich selbst vor der Verstörung durch das hässliche Spiegelbild ihres Schma­rotzerdaseins zu schützen.
Während Vater, Mutter und Schwester von der Ungezieferplage erlöst ins Grüne fahren, kriecht Käfer Gregor aus seinem Grab und räumt auf. Lächelnd betrachtet er seine unter den Tisch entsorgte Kaffeetasse. Möglicherweise hat er die böse Geschichte von seiner eigenen Entsorgung nur als grausame Komödie geträumt. Ein bestechendes Theaterereignis, auch für Oberstufen-Schulklassen bes­tens geeignet. E.E.-K.

Aufführungsdauer: ca. 70 Min., keine Pause
Im Programm bis: ?????

Dienstag, 27.12.2011

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